„Ich kann nicht zeichnen“ ist wohl einer der Sätze, die ich am häufigsten höre. Ob in Trainings, Workshops oder in Routine-Besprechungen – wo auch immer ich visuelles Denken, wo auch immer ich Stegreifvisualisierungen in die Situation einführe, Menschen bitte, zu zeichnen: Das „Ich kann nicht zeichnen.“ folgt auf dem Fuße – und wirkt leider nur allzu oft wie eine „self-fulfilling prophecy“1.
Dabei konnten wir alle mal zeichnen – jedes Kind kann zeichnen und tut dies auch ausgiebig, sobald es Stift und Papier (oder auch Stift und Tapete o. ä.) zur Verfügung hat. Meist erläutern Kinder ihre Zeichnungen, führen sie aktiv in das Gespräch ein – manchmal gar als eine visuelle Unterstützung der Kommunikation, die wir als Erwachsene verlernt zu haben scheinen.
Nun würde sicherlich niemand im Meeting aufstehen, eine Visualisierung ähnlich der nebenstehenden „Kopffüßler“ auf das Flipchart zeichnen und den selben Grad an Begeisterung erwarten wie das dreijährige Kind von seinen Eltern.
Die Ansprüche sind im Laufe der Jahre gestiegen – die Ansprüche an sich selbst, vor allem aber das, was man über die Ansprüche der anderen denkt. Dennoch: Nur, weil man nicht mehr auf die bedingungslose Begeisterung der Eltern vertrauen kann, gar nicht mehr zu zeichnen – ob der antizipierten Ansprüche das Flipchart einfach gänzlich links liegen zu lassen – wäre wirklich schade; einem entginge ein wertvolles Ausdrucksmittel, eine großartige Ergänzung der verbalen Kommunikation, die Kompliziertes, manchmal gar das Unaussprechliche erst kommunizierbar macht2.
Nun ist es offensichtlich falsch, anzunehmen, wir hätten das Zeichnen schlicht verlernt: Wir haben uns (fein‑)motorisch und kognitiv gegenüber dem dreijährigen Kind massiv weiterentwickelt und zudem durch viele Jahre voller visueller Eindrücke eine erhebliche „visual literacy“ aufgebaut, die wir in unsere Visualisierungen einbringen können. Wir können also ohne Zweifel zeichnen oder haben zumindest das Potential dazu – und das auch auf jeden Fall viel „besser“ als als Kind. Das Problem ist nur: Die von uns antizipierten Ansprüche Dritter an unsere Zeichnungen haben sich ungleich stärker entwickelt als das, was wir über unsere zeichnerischen Fähigkeiten denken. Wir haben uns quasi rechts überholt – und das Visuelle ist dabei auf der Strecke geblieben.
Eines Tages waren wir alle einfach in dem Alter, in dem nicht mehr automatisch jeder Erwachsene unsere Zeichnung toll fand – und dieser Schock sitzt tief! Dazu kommt, dass spätestens ab der ersten Klasse mit (zunehmend weniger krakeliger) Schrift mehr Anerkennung zu heischen ist als mit (nach wie vor krakeligen) Zeichnungen – der Schwerpunkt unserer Bemühungen verlagert sich fast zwangsläufig ins Schriftsprachliche3.
Irgendwann wurden wir womöglich selbst unser schlimmster Kritiker – ich zumindest weiß nicht, wie viele Blätter Papier ich als Kind wütend zerknüllt habe, weil der Kreis nicht rund genug, weil die Linie nicht gerade genug war.
Heute weiß ich: Erkennbarkeit und erkennbare Mühe beim Zeichnen sind für eine wirksame visuelle Unterstützung meiner Kommunikation absolut hinreichend. Natürlich lässt sich die Wirksamkeit – und nur darauf kommt es wirklich an – einer Visualisierung durch Qualität steigern (vgl. hier), aber Perfektion ist nicht notwendig – und es gibt sogar zu viel des Guten.
Jedes Kind kann zeichnen – und jeder Erwachsene umso besser. Trauen Sie sich!
Footnotes:
- ↑ Sehr schön beschrieben in: Schultz von Thun, Friedemann: Auch Sie können aus dem Stegreif visualisieren!. In: Pädagogik 10 (1994). S. 11.
- ↑ Die kinderzeichnung stammt übrigens aus keiner „aktuellen“ Krise, sondern aus Priština und ist bereits 16 Jahre alt. Kinder malen schon sehr lange – schon viel zu lange – solche Bilder. Nebenbei bemerkt löst Picassos „Guernica“ bei mir nicht mehr und nicht weniger Gefühle aus als diese Kinderzeichnung.
- ↑ Womöglich ist dies die Geburtsstunde vieler mit Text bedeckten PowerPoint-Folien.
Das sehe ich auch so.
In meinen Flipchart-Trainings höre ich auch oft: „Ich kann nicht zeichnen“. Allerdings kommt dann auch nach spätestens 60 min ein: „Das hätte ich nicht gedacht, dass ich sowas kann.“
Zum Auflösen solcher hinderlichen Glaubenssätze habe ich einen Artikel geschrieben:
http://sinnstiften.biz/ich-kann-nicht-zeichnen-ist-das-wahr/
Denn wir brauchen mehr Menschen, die an ihre Fähigkeiten glauben!
SinnSTIFTende Grüße,
David