In „normalen“ Jahren nehme ich meist an etlichen BarCamps und PM Camps teil – und zu spätestens jedem zweiten Camp habe ich einen großen Beutel voller Stifte und eine Mappe mit Übungsblättern dabei, um eine Session mit dem Titel „Schöner“ schreiben am Flipchart anzubieten. In diesem sehr besonderen Jahr 2020 nun verbieten sich physische Treffen in BarCamp-Größe weitestgehend, wir alle müssen lernen, die bisherigen Austausch- und Lernformate ins Virtuelle zu übertragen – und physische Flipcharts, das Visualisieren für die Gruppe mit Papier und Stift, sind dementsprechend im Moment nicht gerade in Mode. Dennoch: Ich habe ein wenig Entzugserscheinungen – nicht nur vom Visualisieren selbst. Gerade in der „Schöner schreiben“-Session habe ich oft ein recht großes Gefühl von Wirksamkeit, das fehlt mir ein wenig. Aus diesem Grund starte ich ein Experiment: Ich versuche, die Session (weitgehend anhand meiner „Speaker Notes“ in den Folien) gleich einem „Skript“ ins Schriftlich-Virtuelle zu übertragen – vielleicht hat ja auch das ein wenig Wirksamkeit:
In der Session-Planung bewerbe ich diese Session meist mit der Eingangsfrage „Wer von Euch hat eine wirklich schlimme Sauklaue?“ – und genau darum geht es in diesem „Training“: Lesbarkeit. Unleserliches ist unwirksam – und die eigenen schriftlichen Äußerungen unleserlich zu tätigen, ist gleichsam „visuelles Nuscheln“ und zeugt zudem nicht gerade von (Selbst‑)Wertschätzung.
Das heißt im Umkehrschluss: Wer an dieser Stelle einen Kalligraphie-Kurs oder Hinweise für schönere Sketchnotes erwartet, ist sicherlich falsch. Ich habe selbst eine „Sauklaue“; zum ernsthaft schönen Schreiben habe ich wenig zu sagen. Es geht hier wirklich nur um eines: um schriftliche Wirksamkeit am Flipchart.
Wir alle haben ja einmal das Schreiben mit der Hand gelernt – je nachdem, wie lange die Grundschule schon her ist und in welchem Bundesland man zur Schule ging, unterschiedlich „verschnörkelt“. Ich zum Beispiel habe mit der Lateinischen Ausgangsschrift begonnen, nicht unüblich war auch die Schulausgangsschrift – fast jeder, der heute im Berufsleben steht, wird mit irgendeiner Form von Schreibschrift begonnen haben1.
Allen schultypischen Schreibschriften ist m. E. gemein: Sie sind für das schnelle und lesbare Schreiben am Flipchart nicht geeignet. Dennoch erlebt man häufig, dass Menschen vor dem Flipchart quasi in ihre Grundschulzeit zurückfallen, sich womöglich daran zu erinnern versuchen, wie man noch das große „H“ oder „X“ geschrieben hat, mehr oder minder verzweifelt versuchen, sich an die Zeiten des Schönschreibhefts zu erinnern.
Dabei ist das vollkommen unnötig: Es gibt eine für das Flipchart (und Vergleichbares, bspw. Moderationskarten) viel geeignetere Schrift: Die Moderationsschrift – und darum, wie man diese „Plakatschrift“ möglichst einfach und dennoch lesbar schreibt, geht es in diesem „Training“.
Die m. E. wichtigste „Zutat“ einer lesbaren Moderationsschrift ist der richtige Stift. Moderationsmarker („Eddings“) werden in zwei Formen geliefert: mit Keilspitze und mit Rundspitze. Wer nie mit einer Keilspitze schreiben gelernt hat, fragt sich oft, wozu diese eher hinderlich wirkende Form wohl geeignet sein könnte und beschafft dann vermutlich auch eher Stifte mit Rundspitze – vermutlich eine der Hauptursachen für ein „krakeliges“ Schriftbild.
Es gibt übrigens auch für das Whiteboard Stifte mit Keilspitze – in der Praxis recht selten anzutreffen, aber problemlos zu beschaffen. Ich hoffe, einen Beitrag dazu zu leisten, dass auch an Whiteboards häufiger Stifte beiden Typs zu finden sind! Möchte man vergleichsweise klein schreiben (z. B. auf Moderationskarten oder Klebezetteln für das Kanban-Board), kann man anstelle von dicken Markern mit Keilspitze übrigens auch gut die meist deutlich dünneren Kalligraphie-Stifte verwenden (vgl. hier); alles, was für die Keilspitze hier gesagt wird, gilt analog auch für Kalligraphie-Stifte. Weitere Hinweise zur Wahl des richtigen Stifts für die jeweilige Oberfläche finden übrigens sich hier.
Genug der Warenkunde, zurück zum Hauptthema: Ich verwende Stifte mit Rundspitze nur zum Zeichnen, zum Schreiben sollte man wenn irgend möglich Stifte mit Keilspitze verwenden – und die Gründe dafür möchte ich in diesem „Training“ verdeutlichen.
Bei richtiger Verwendung erzeugen Stifte mit Keilspitze ein deutlich „schöneres“ und lesbareres Schriftbild als solche mit Rundspitze.
Auf dieser Abbildung sieht man auch gleich die zweite m. E. sehr wichtige „Zutat“ für ein lesbares Schriftbild trotz „Sauklaue“: kariertes Papier. Flipchart-Papier ist erstaunlich häufig kariert – ist es das nicht, sollte man neues beschaffen. Weniger häufig ist kariertes Papier für Moderationswände („Pinnwände“, vgl. hier), karierte Whiteboards habe ich leider bisher nur (selten) in Schulen gesehen. Dennoch: Wenn irgend möglich, sollte man auf einer karierten Oberfläche schreiben – das Karo schafft einfach Orientierung und ermöglicht einem eine konstante Skalierung der Buchstaben auch über größere Flächen hinweg.
Zur Stifthaltung – dem entscheidenden Aspekt: Der Stift sollte so gehalten werden, dass die lange Kante des Keils jederzeit in einem Winkel von etwa 45° komplett auf dem Papier aufliegt. Dafür ist es erforderlich, den Stift in einer etwas kontraintuitiven Weise „einzudrehen“ – diese Handhaltung ist gewöhnungsbedürftig (vgl. Video weiter unten). Ob man den Stift richtig hält, lässt sich dabei recht einfach prüfen – macht man alles richtig, sollte …
- … ein vertikaler Strich mittelbreit sein und oben und unten mit einem 45°-Winkel abschließen.
- … ein Strich von rechts unten nach links oben eher dünn sein.
- … ein Strich von links oben nach rechts unten eher dick sein.
Schreibt man mit dieser Stifthaltung, ergibt sich automatisch etwas, was ich oft als „Kalligraphie-Effekt“ bezeichne:
- Die Anstriche der einzelnen Striche weisen einen 45°-Winkel auf.
- Die Strichstärken variieren „kalligraphie-artig“.
Wirklich gut sieht das alles nebenbei bemerkt natürlich nur aus, wenn die Keilspitze des Stiftes nicht schon (oft durch falsche Verwendung bzw. Stifthaltung) abgenutzt – quasi „stumpf“ geworden – ist. Einige Hersteller erlauben übrigens nicht nur das Nachfüllen von Stiften, sondern auch den Tausch der Spitze, ohne den das Nachfüllen m. E. meist ob der abgenutzten Spitze wenig sinnvoll ist (vgl. hier).
Für Menschen, die Probleme mit der korrekten Stifthaltung haben, eignen sich meiner Erfahrung nach die Stifte von Neuland besonders gut: Sie besitzen zwei Einbuchtungen für die Finger (vgl. Video unten, der violette Marker), die eine korrekte Stifthaltung geradezu erzwingen – und nachfüllen und mit neuer Spitze versehen lassen sie sich auch. Linkshänder können übrigens die komplette Spitze vom Stift abziehen (eine Flachzange ist dabei hilfreich) und um 180° versetzt wieder aufsetzen – dann passen die Einkerbungen wieder.
Die lange Kante in konstantem Winkel jederzeit vollständig auf dem Papier aufliegen zu haben, ist erfahrungsgemäß motorisch gar nicht so einfach. Die einzelnen Buchstaben zusammengesetzt aus mehreren Teilen zu schreiben, hat sich dafür als sehr hilfreich erweisen – und mit ein bisschen Übung ist es tatsächlich auch schneller, z. B. das kleine „a“ in zwei Schritten (und mit Absetzen des Stiftes) aus einem runden Bogen (rot) und einem graden Abstrich (schwarz) zusammenzusetzen. Selbst ein „O“ oder ein „S“ schreibt sich für viele Menschen zumindest am Flipchart in zwei Teilen einfacher. Beide Buchstaben bestehen dabei aus zwei entgegengesetzten Bögen – im Falle des „O“ berühren sie sich an beiden Enden, im Falle des „S“ nur an einem.
Das lateinische Schriftsystem bietet uns schon lange zwei „Sorten“ von Buchstaben: Majuskeln (seit der Antike) und Minuskeln (seit dem 8. Jh.), Groß- und Kleinbuchstaben. Beides zu mischen ist seit der Renaissance üblich und bewährt – und nicht anders würde ich es auch am Flipchart machen: Die Nutzung von Groß- und Kleinbuchstaben erhöht m. E. die Distinktivität der Buchstaben und damit auch die Lesbarkeit. Am Flipchart ausschließlich in Versalien oder gar unter Verwendung von Kapitälchen zu schreiben, erscheint mir deutlich weniger lesbar und wirkt auf mich zudem ähnlich wie in E‑Mails wie Schreien.
Meiner Erfahrung nach empfiehlt es sich, vergleichsweise klein zu schreiben: Schreibt man mit dem „dicken“ „Edding“, sollte ein Großbuchstabe etwa zwei Karos (ca. 5 cm) groß sein, schreibt man mit einem „normalen“ Moderationsmarker, empfiehlt es sich, Großbuchstaben nur etwa ein Karo (ca. 2,5 cm) groß zu schreiben.
Ein an dieser Stelle oft gehörter Einwand ist der der Lesbarkeit von weiter hinten im Raum. Meiner Erfahrung nach scheitert die Lesbarkeit aber weniger an der Schriftgröße als an der „Sauklaue“ – und sind 2,5 cm große Buchstaben nicht von jedem im Raum lesbar, ist der Raum bzw. das Auditorium m. E. schlicht zu groß und das Flipchart dementsprechend womöglich gar nicht das richtige Werkzeug.
Nicht nur aus Platzgründen sollte man relativ gedrängt schreiben:
Je geringer die Abstände zwischen den Buchstaben sind, desto geringer ist deren absolute Schwankung. Anders formuliert: Eine breitere Spationierung ähnlich einem Sperrsatz führt zu erkennbareren Unregelmäßigkeiten im Abstand. Zudem steigt naturgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass man ob des größeren Abstandes zum vorherigen Buchstaben auch die Größe der Buchstaben weniger konstant hält.
Ähnliches gilt für Ober- und Unterlängen: Je sparsamer ich damit umgehe, desto geringer ist die absolute Schwankungsbreite zwischen den verschiedenen Buchstaben, das Schriftbild wird gleichmäßiger.
Auch Serifen erzeugen meist eher ein unregelmäßigeres Schriftbild, ohne wirklich die Lesbarkeit zu erhöhen – und kosten wertvolle Zeit. Eine praktische Relevanz haben sie zudem bei den recht geringen Schriftmengen am Flipchart kaum: Das „l“ und das „I“ mögen ohne Serifen zwar kaum auseinanderzuhalten sein, im meist ja recht pointierten Kontext dürfte dies aber praktisch nie wichtig und der Text dennoch problemlos lesbar sein.
Selbst die Frage, ob Texte, die in serifenlosen („Grostek-“) Schriften gesetzt sind, weniger gut oder anstrengender lesbar sind als Texte, die in Serifenschriften gesetzt sind, ist übrigens meines Wissens sogar für gedruckte Buchstaben strittig.
Bereits seit 2013 jedes Jahr von Neuem führend in der Abruf-Statistik dieses Blogs ist die „Downloads“-Seite mit den Übungsblättern und einer PDF mit zusammenfassenden Hinweisen zum „schöner“ schreiben nebst einer Schrifttabelle. Da nun die Praxis-Phase dieses virtuellen Trainings beginnt, empfiehlt sich ein Besuch dieser Seite und – sofern nicht gerade ein Flipchart zur Hand ist – das Ausdrucken der Übungsblätter. Die Übungsblätter sollten allerdings möglichst nicht am Schreibtisch benutzt werden, sondern (z. B. mit Malerkrepp befestigt und doppelt, um ein Durchschreiben auf die Wand zu vermeiden) an der Wand hängend – die Handhaltung am Schreibtisch sitzend ist einfach eine völlig andere als die vor einem Flipchart stehend; in geeigneter Höhe an die Wand geklebte Blätter kommen dem viel näher. Nutzt man bspw. das Magic-Chart (vgl. hier, hier und hier), hängt dies meist übrigens auch einfach an der Wand – es muss nicht immer ein Flipchart sein und die Position an der Wand ist dementsprechend durchaus auch praxisrelevant.
Wäre dieses „Training“ nicht „virtuell“, käme nun die (zumindest in meiner Wahrnehmung als Referent) „spaßige“ Phase: Das Ausprobieren und das Üben[, üben, üben!]. Diese Phase startet meist mit einer kurzen Vorführung der (wie gesagt für viele kontraintuitiven) Stifthaltung – hier ersatzweise ein kleines Video (ohne Ton, Anmerkungen als Lauftext am besten im Vollbild-Modus sichtbar, leider eher [realistisch] wackeliges Dreibein-Flipchart):
Ja – ebenso wie im Falle einer BarCamp-Session hoffe ich natürlich auch bei diesem Format, ein wenig wirksam gewesen zu sein, ein wenig zu mehr Lesbarkeit an Flipchart, Whiteboard, auf Klebezetteln und am Kanban-Board beigetragen zu haben. Neben „Üben, üben, üben!“ bleibt mir an dieser Stelle nur der Hinweis auf das übrige Blog – übrigens nicht nur zu Visualisierungs-Themen, sondern z. B. auch zu vielen Themen des (meist agilen) Projektmanagements!
Fußnoten:
- ↑ Seit Kurzem ist das übrigens in einigen Bundesländern nicht mehr so, in Hamburg bspw. wird inzwischen i. d. R. mit der Grundschrift begonnen. Falls diese Generation später im Berufsleben noch am Flipchart schreibt, wird sie es vermutlich deutlich einfacher haben.
Super! Herzlichen Dank für die genaue Beschreibung.
Ihre Fußnote muss ich leider kommentieren: eine eigene flüssige Handschrift erarbeitet man sich besten aus einer Schreibschrift, da man dabei alles weglässt und ergonomisiert, was für einen selbst zu viel ist. Das kann man bei der Grundschrift kaum, bei der Druckschrift gar nicht. Ist ja nichts mehr da zum Weglassen. Kinder, die nur noch Grundschrift oder Druckschrift lernen mögen es vielleicht leichter haben am Flipchart zu schreiben. Man nimmt ihnen aber die Möglichkeit ihre persönliche und für sie charakteristische flüssige Handschrift zu entwickeln.
Danke für diesen Beitrag! Sehr hilfreich. Dann gehe ich mal üben 😉
Genau üben! Das hilft bei allem warum also nicht auch hier…