Unser tägliches Leben ist stark visuell geprägt. Schon auf einer kurzen Fahrt mit der U‑Bahn1 strömen Unmengen visueller Reize auf uns ein: unzählige (meist hochgradig visuelle) Werbebotschaften, dutzende Piktogramme, (hoffentlich wohlgestaltete) U‑Bahn-Netzpläne und vieles mehr. Rein flächenmäßig überwiegt das Visuelle gegenüber dem Textuellen eindeutig und prägt unsere Rezeptionshaltung – und das nicht nur in der U‑Bahn, sondern in großen Teilen unseres Alltags. Auf der Produktionsseite andererseits verhalten wir uns oft völlig anders: Viele unserer Dokumente sind geradezu „Bleiwüsten“ und unsere Präsentationen oft extrem textlastige „Slideuments“2; Sketchnotes und Doodles3 werden häufig eher belächelt4. Offenkundig gilt: Ein ernsthafter Gedanke hat geschrieben zu sein!
Nun ist gegen sprachlich explizierte Gedanken m. E. wirklich nichts einzuwenden – um mit Ludwig Wittgenstein zu sprechen: „3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.“5. Andererseits kam selbst der große Sprachphilosoph und Logiker nicht umhin, dem Bildhaften eine große Bedeutung zu geben: „2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen.“6.
(Auch) Das Visuelle hat eine pädagogisch-psychologische Bedeutung; es ist wirksam und das ist theoretisch und experimentell verhältnismäßig gut abgesichert. Die wohl verbreitetste Theorie zum Zusammenwirken vom Textuell-Sprachlichen und Visuellen ist die auf Allan Paivio zurückgehende „dual-coding theory“ (DCT). Paivio postuliert, dass die menschliche Kognition (i. S. von „Informationsverarbeitung“) in zwei unterschiedlichen „Subsystemen“ stattfindet: einem sprachlichen („verbal“) und einem nicht-sprachlichen bzw. visuellen („nonverbal (imagery)“)7. Sprachliche und visuelle Informationen werden nach Paivio auf unterschiedliche Weise verarbeitet und auf unterschiedliche Weise im Gedächtnis gespeichert, unterschiedlich (als „logogens“ und „imagens“) repräsentiert und vor allem auch auf unterschiedliche Weise abgerufen – und sind doch miteinander referentiell verbunden und ermöglichen so beim Abruf und Verarbeiten der Information multiple, unterschiedliche Zugänge.
Piavios Theorie erscheint mir extrem plausibel – vor allem aber sprechen viele Ergebnisse pädagogisch-psychologischer und neurowissenschaftlicher Untersuchungen und Experimente für seinen Ansatz8. Richard E. Mayer kombinierte später Piavios Theorie mit John Swellers „cognitive load theory“ zu einer „multimedia learning theory“ und konnte eindrucksvoll belegen, dass das Erinnern und vor allem auch Verarbeiten von Informationen umso besser gelingt, je mehr möglichst einfach verarbeitbare Informationskanäle (insbesondere Sprache und Bild gemeinsam) genutzt werden – das sogenannte „multimedia principle“9: „[…] people who learned from words and graphics produced between 55 percent to 121 percent more correct solutions to transfer problems than people who learned from words alone.“10.
Wenn Sie das nächste Mal für Ihren Hang zum Visuellen belächelt werden – verweisen Sie guten Gewissens auf Paivios „dual-coding theory“ und Mayers „multimedia principle“.
Was Sie auf der anderen Seite nicht vergessen sollten: Es geht um „dual-coding“, um das Zusammenwirken zweier Formen, Information weiterzugeben und auf der Empfängerseite zu verarbeiten, zu speichern und abzurufen. Ich erlebe erstaunlich häufig, dass stark visuell orientierte Menschen (die die Welt naturgemäß als viel zu textuell-sprachlich wahrnehmen) quasi „überkompensierend“ in das andere Extrem – das ausschließlich Visuelle – abgleiten. Das ist m. E. nicht nur zu viel des Guten, sondern ebenso fatal wie die erwähnte „Bleiwüste“: Hilfreich ist nicht das eine oder das andere, sondern das eine und das andere – erst im (möglichst gezielten) Zusammenwirken von Sprache und Bild entsteht der quasi additive Effekt des „dual-codings.“
Fußnoten:
- ↑ Die Situation, in der die meisten meiner Blog-Artikel-Ideen geboren werden.
- ↑ Eine typische Präsentations-Folie enthält 30,8 Wörter, rund ein Fünftel aller Folien mehr als 50 Wörter. Vgl. „Visual Logorrhea – On the Prevalence of Slideuments“.
- ↑ Vgl. <http://thedoodlerevolution.com>.
- ↑ Und ich selbst beispielsweise kritisiere das Mindmapping.
- ↑ Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico-Philosophicus. 8. Aufl. London: Routledge & Kegan Paul Ltd. 1960, S. 44.
- ↑ Ebenda, S. 38.
- ↑ Vgl. James M. Clark, Allan Paivio: Dual coding theory and education. In: Educational psychology review 3.3 (1991). S. 149 – 210.
- ↑ Vgl. ebenda.
- ↑ Ruth C. Clarke, Richard E. Mayer: E‑learning and the science of instruction. Proven guidelines for consumers and designers of multimedia learning. 3. Aufl. San Francisco: John Wiley & Sons 2011. S. 79 ff.
- ↑ Ebenda, S. 81.