Kanban und Gantt – mischen impossible‽

Situa­ti­ons­be­dingt kom­me ich mit mei­ner Prä­fe­renz für phy­si­sche, „hap­ti­sche“ Kan­ban-Boards im Moment nicht weit; die pan­de­mie­be­ding­te Ver­brei­tung von Home Office macht digi­ta­le Lösun­gen gera­de­zu not­wen­dig. Bei der nun ver­mehr­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit Kan­ban-Soft­ware fällt auf: Prak­tisch jede Lösung am Markt offe­riert zusätz­lich zur Visua­li­sie­rung des Arbeits­flus­ses am eigent­li­chen Kan­ban-Board eine Dar­stel­lung als Gantt-Dia­gramm und wirbt oft­mals sogar damit – was für eine absur­de, das Werk­zeug sei­nes Kerns ent­klei­den­de Metho­den-Chi­mä­re!

Kanban und Gantt – Wasser und ÖlKan­ban und Gantt-Dia­gram­me ver­hal­ten sich m. E. ähn­lich wie Was­ser und Öl – mit dem Unter­schied, dass Letz­te­res ver­mit­tels eines Emul­ga­tors zumin­dest zeit­wei­lig eine Emul­si­on ein­ge­hen kann. Einen sol­chen Emul­ga­tor kann ich mir für Kan­ban und Gantt-Dia­gram­me nur sehr schwer vorstellen:

  • Kan­ban – per se übri­gens kei­ne Pro­jekt­ma­nage­ment-Metho­de, son­dern eine gene­ri­sche Metho­de, belie­bi­ge Arbeits­sys­te­me zu mana­gen – ist fluss­ori­en­tiert und pull-basiert:
      • Die Visua­li­sie­rung am Board zeigt den Fluss belie­bi­ger Arbeits­ein­hei­ten durch den Arbeits­pro­zess, nicht aber deren Abhän­gig­kei­ten oder gar Ter­mi­ne. Abhän­gig­kei­ten exis­tie­ren an der Kan­ban-Tafel aller­höchs­tens als (den Fluss stö­ren­de) Blocker​1; nutzt man Kan­ban im Pro­jekt­ma­nage­ment, wer­den Abhän­gig­kei­ten meist bereits beim regel­mä­ßi­gen Rep­le­nish­ment berück­sich­tigt, um im eigent­li­chen Arbeits­fluss mög­lichst kei­ne Rol­le zu spie­len. Bestim­men vor allem kom­ple­xe Abhän­gig­kei­ten mein Pro­jekt, ist Kan­ban m. E. für das Manage­ment die­ses Pro­jek­tes min­des­tens nicht aus­rei­chend, wenn nicht gar ungeeignet.
      • Wich­ti­ge Aspek­te einer Kan­ban-Imple­men­tie­rung sind in aller Regel die Begren­zung der gleich­zei­ti­gen Arbeit („WIP“, vgl. bspw. hier) und die Eta­blie­rung eines Pull-Sys­tems: Nicht Ter­mi­ne ent­schei­den, wann mit der Bear­bei­tung einer wei­te­ren Arbeits­ein­heit begon­nen wird, son­dern ein­zig und allein die Kapa­zi­tät des Sys­tems. „Him­mel­fahrts­kom­man­dos“ mit völ­lig arbi­trä­ren Ter­min­zu­sa­gen soll­ten mit Kan­ban kaum mög­lich sein; eine [Termin-]Zusage („Com­mit­ment“​2) erfolgt (nur) genau dann, wenn auch Kapa­zi­tät ver­füg­bar ist. Der Abschluss einer Arbeits­ein­heit ist also auch frü­hes­tens nach dem Com­mit­ment Point plan­bar, vor­her exis­tiert dafür kein Ter­min – und jeder Ter­min, den man trotz­dem geplant hat, wäre schlicht­weg geraten.
Beispiel – Kanban-Board in KanBoard
Bei­spiel – Kan­ban-Board in Kan­Board
  • Gantt-Dia­gram­me wie­der­um sind im Kern ein Zeit­strahl: [Start-]Ter­min und Dau­er der jewei­li­gen Arbeit[spakete] wer­den ent­lang einer kalen­da­ri­schen Ska­la auf­ge­tra­gen, Abhän­gig­kei­ten ggf. durch Ver­bin­dun­gen visua­li­siert. Möch­te ich ein Gantt-Dia­gramm erstel­len, müs­sen also min­des­tens die ers­te­ren bei­den Infor­ma­tio­nen vor­lie­gen – die Arbeit fest ter­mi­niert und der Auf­wand best­mög­lich geschätzt sein. Die Tat­sa­che, dass Gantt-Dia­gram­me über Jahr­zehn­te von Hand auf Papier gezeich­net wur­den und dem­entspre­chend im Fal­le von Ter­min­ver­schie­bun­gen kom­plett neu gezeich­net wer­den mussten​3, ver­deut­licht, wie stark deter­mi­nis­tisch die Welt­sicht hin­ter die­ser Pla­nungs­tech­nik ist. Im Ergeb­nis dürf­te gel­ten: Wirk­lich exakt ist der Bal­ken­plan sowie­so nur in der Retro­spek­ti­ve. Nicht ohne Grund übri­gens mutet die­se Sicht auf die [Projekt-]Zukunft gera­de­zu tay­lo­ris­tisch an: Hen­ry L. Gantt arbei­te­te lan­ge mit Fre­de­rick W. Tay­lor zusam­men und gilt als einer der Begrün­der des Sci­en­ti­fic Managements.
Beispiel - Gantt-Diagramm in GanttProject
Bei­spiel – Gantt-Dia­gramm in Gantt­Pro­ject

Auto­ma­ti­siert aus den Inhal­ten eines Kan­ban-Boards ein Gantt-Dia­gramm zu erstel­len, ist also unmög­lich, habe ich nicht min­des­tens bereits alle Arbeit ter­mi­niert und geschätzt, idea­ler­wei­se die Abhän­gig­kei­ten bestimmt und alle die­se Infor­ma­ti­on in den Tickets hin­ter­legt. Tickets ohne die­se Infor­ma­tio­nen (also i. d. R. zumin­dest alle Tickets vor dem Com­mit­ment Point) könn­ten im Gantt-Dia­gramm nur qua­si frei­schwe­bend auf der Start-Linie des Zeit­strahls fest­hän­gen – eine ziem­lich sinn­lo­se Visua­li­sie­rung. Ter­mi­nie­re ich aber alle Arbeits­ein­hei­ten, habe ich defi­ni­tiv kein Pull-Sys­tem mehr, Ter­mi­ne wer­den wich­ti­ger als WIP-Limits und jede Form von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on rückt zudem in wei­te Fer­ne – und ohne jetzt an die­ser Stel­le aus­schließ­lich die „rei­ne Leh­re“ pro­pa­gie­ren zu wol­len: „Agi­le“ im Sin­ne von „Reagie­ren auf Ver­än­de­rung mehr als das Befol­gen eines Plans“4 ist sicher­lich etwas ande­res. Arbeit fest zu ter­mi­nie­ren ist eine Form von „Push“ – vor allem, wenn ich mich bereits vor dem eigent­li­chen Com­mit­ment Point festlege.

Kann man pro­blem­los sei­ne Kan­ban-Tickets in ein plau­si­bles Gantt-Dia­gramm wan­deln, nutzt man viel­leicht ein Kan­ban- oder bes­ser Task-Board5, m. E. aber nur sehr begrenzt die Kan­ban-Metho­de – und managt man die Arbeit nicht wirk­lich fluss­ori­en­tiert, erscheint mir ein Task-Board neben­bei bemerkt eine aus­ge­spro­chen wenig sinn­vol­le Visua­li­sie­rung, gera­de­zu eine MeToo­de.

Soll­te Ihre Kan­ban-Soft­ware eine Gantt-Funk­tio­na­li­tät haben: Schal­ten Sie sie ab! Gibt es dar­auf­hin Pro­tes­te (ver­mut­lich meist von der Füh­rungs­ebe­ne): Das ist eine wirk­lich wun­der­ba­re Gele­gen­heit, Kon­zept und Wir­kungs­wei­se eines WIP-limi­tier­ten Pull-Sys­tems zu diskutieren!

Wür­de ich Kan­ban über­haupt um eine wei­te­re Dar­stel­lungs­form für die anste­hen­de Arbeit ergän­zen wol­len, wäre das wohl ein (stark ver­ein­fach­ter) Netz­plan (ohne Ter­mi­ne) – die Abhän­gig­kei­ten auf den ers­ten Blick erken­nen zu kön­nen, wür­de womög­lich manch­mal das Rep­le­nish­ment wirk­lich ver­ein­fa­chen. Den Zustand eines Kan­ban-Arbeits­sys­tems aber in Form eines Gantt-Dia­gramms dazu­stel­len, ist wirk­lich wider­sin­nig und wider­spricht fast allem – zer­stört womög­lich gar fast alles –, was Kan­ban aus- und wirk­sam macht.

Foot­no­tes:

  1.  Zum Umgang mit Abhän­gig­kei­ten vgl. bspw. <https://www.kanbwana.de/2020/04/30/podcast-mit-abhängigkeiten-umgehen/> (19.09.2020).
  2.  Vgl. bspw. <https://​www​.kanb​wa​na​.de/​2​0​2​0​/​0​3​/​2​7​/​p​o​d​c​a​s​t​-​c​o​m​m​i​t​m​e​n​t​-​r​e​p​l​enishment/> (19.09.2020).
  3.  Sei­nen Sie­ges­zug hat das Gantt-Dia­gramm also wohl erst mit der Digi­ta­li­sie­rung des Pro­jekt­ma­nage­ments ange­tre­ten. Vgl. bspw. <https://www.apm.org.uk/blog/a‑brief-history-of-gantt-charts/> (08.11.2020) und <http://​pro​jekt​-mana​ger​.eu/​p​r​o​j​e​k​t​m​a​n​a​g​e​m​e​n​t​/​b​a​l​k​e​nplan.html> (08.11.2020).
  4.  Vgl. <https://​agi​le​ma​ni​festo​.org/​i​s​o​/​d​e​/​m​a​n​i​festo.html> (08.11.2020).
  5.  Ich nei­ge ins­be­son­de­re im Zusam­men­hang mit Scrum dazu, von einem „Task-Board“ zu spre­chen und den Begriff „Kan­ban“ zu ver­mei­den. Dazu, wie sich Scrum und Kan­ban effek­tiv und effi­zi­ent kom­bi­nie­ren las­sen vgl. <https://​www​.scrum​.org/​r​e​s​o​u​r​c​e​s​/​k​a​n​b​a​n​-​g​u​i​d​e​-​s​crum-teams> (08.11.2020).

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