Ich nehme die Menschen im IT-Infrastruktur-Bereich oftmals als in ihrer Arbeit hin- und hergerissen wenn nicht gar zerrissen wahr: Die meist fehlende klare Trennung von Betrieb und Projekt ist im Tagesgeschäft ein kaum auflösbarer Dauer-Konflikt und die Dringlichkeit des Betriebs gewinnt meist gegen die Wichtigkeit des Projekts – der Hauptgrund, warum mir Kanban als übergreifende Methode zur Steuerung dieser Arbeiten als empfehlenswert erscheint: Kanban ermöglicht nicht nur das Mischen von reaktiven Support-Tätigkeiten und Projektarbeit, sondern macht zudem den inhärenten Konflikt sicht- und damit handhabbar (vgl. hier, hier und hier).
Bei genauerer Betrachtung ist die obige Darstellung allerdings zu kurz gegriffen, sind der Konflikt und die zur Verfügung stehende Zeit komplexer: Die Menschen in der IT sind praktisch eigentlich nicht zwei‑, sondern vielmehr dreigeteilt. Was ich dem Administrator oben lapidar als „Betrieb“ auf den Arm geschrieben habe, besteht in Wirklichkeit aus zwei ebenfalls um die knappe Zeit konkurrierenden Teilen: (reaktivem) Support und (proaktiver) Wartung – und auch hier gewinnt meist wieder [gefühlte] Dringlichkeit (Support) gegenüber Wichtigkeit (Wartung). Im Ergebnis befinden sich viele IT-Abteilungen in einem doppelten Teufelskreis, der in Bezug auf die Qualität der IT-Services den Charakter einer Abwärtsspirale annehmen kann:
Spätestens seit Fred Brooks wissen wir: Es gibt nicht die „Silver Bullet“ – die singuläre Lösung all unserer (Produktivitäts‑)Probleme. Und so löst auch Kanban nur bedingt diesen zweiten Konflikt, ist nur begrenzt geeignet, sich wiederholende (Wartungs‑)Arbeit zu managen. Schaut man sich aber im Kontext des TPS – von dort kommen ja letztlich viele der Ideen von Kanban1 – um, so findet sich dort ein in Methodik und zugrunde liegender Haltung wunderbar „kompatibler“ Ansatz, der Kanban um sich wiederholende Wartungstätigkeiten2 ergänzen kann: Kamishibai (紙芝居)3.
Auf einem Kamishibai-Board finden sich zwar ebenso wie auf einem Kanban-Board Karten, die Arbeit repräsentieren, es gibt aber einige sehr entscheidende Unterschiede in der Handhabung:
- Die Karten repräsentieren ausschließlich sich wiederholende (Wartungs‑)Tätigkeiten – seien es reine Kontrollen (bspw. der Datensicherung) oder aber auch regelmäßige Arbeiten (z. B. monatliche Updates).
- Die Karten wandern nicht über das Board, sondern werden bei erfolgreicher Erledigung der Arbeit bzw. Kontrolle umgedreht. Häufig werden Karten verwendet, die auf einer Seite rot und auf der anderen grün sind und auf diese Weise den Erledigungs-Status der (Wartungs‑)Arbeit repräsentieren4. Update 27.07.2020: Mehr zur integrierten Nutzung von Kamishibai- und Kanban-Boards findet sich übrigens hier.
Der aktuelle Status einer jeden Wartungsaufgabe ist so jederzeit für alle sichtbar – und die Gesamtmenge der Arbeit ebenfalls; die Kanban-Praktik, durch Visualisieren alle Arbeit sichtbar zu machen, ist auch für alle vermeintlich kleinen Wartungsaufgaben umgesetzt. - Die Position der Karte auf dem Board (meist die Spalte) sagt nichts über den Status der Arbeit aus, sondern die Karten sind meist nach der jeweiligen „Taktung“ sortiert – es gibt also z. B. jeweils eine oder mehrere Spalten für sich täglich, sich wöchentlich und sich monatlich wiederholende Tätigkeiten.
- Praktisch wird ein Kamishibai-Board häufig in Form einer handelsüblichen T‑Karten‑Tafel bzw. Stecktafel und rot-grünen T‑Karten umgesetzt.
- Oftmals finden sich auf den Karten Anweisungen für die Durchführung oder Überprüfung („Mini-Audit“) der jeweiligen (Wartungs‑)Tätigkeit und/oder die Karten werden zusätzlich als „Notizzettel“ benutzt: Auf der roten Seite werden beispielsweise aufgetretene Probleme, deren Ursachen und die entwickelten Gegenmaßnahmen5 notiert, auf der grünen Seite wird z. B. die Durchführung der Wartung dokumentiert. Meiner Erfahrung nach wird die Toilettenreinigung in praktisch jedem Schnellrestaurant der Welt besser dokumentiert als viele Routine-Wartungsaufgaben in der IT – das sollten wir ändern!
Naheliegend erscheint, den kritischen Blick auf das Kamishibai-Board zum festen Bestandteil vorhandener Jour Fixes („Kadenzen“)6 zu machen. Zumindest aber sollte ein von kontinuierlicher Verbesserung geprägter Blick auf das Board zu Beginn oder Ende des jeweiligen „Taktes“7 erfolgen – ein bloßes Zurücksetzen aller Karten auf „rot“ bzw. „unbearbeitet“ würde der Idee von Kanban und insbesondere Kaizen bzw. inspect and adopt sicherlich nicht gerecht.
Fußnoten:
- ↑ Ja, ich vermeide gerade das Buzzword „Lean“.
- ↑ Sicherlich kann man auch auf Kanban-Boards sich wiederholende Tätigkeiten modellieren (und viele Softwareprodukte unterstützen das sogar). Mir erscheint das allerdings meist dem Ansatz und der Visualisierung eher mühsam „übergestülpt“ – es passt gut für die einzelne Ausführung der Tätigkeit (die fügt sich in den Fluss ein), nicht aber für das „da capo“ – Wiederholung ist einfach etwas anderes als Fluss. Software modelliert das meist als „es wird automatisch eine ‚frische‘ Ticket-Kopie erzeugt, sobald das Ticket fertig ist“ oder als „das Ticket wandert automatisch zurück, sobald es fertig ist“. Beides bildet zwar den Fluss der Arbeit ab, verschafft aber keinen konsolidierten Überblick über alle Wartungsaufgaben und deren Status und unterstützt kein spezifisch auf Wartung ausgerichtetes Kaizen.
- ↑ Zu Kamishibai im Kontext des TPS vgl. bspw. <https://blog.gembaacademy.com/2006/11/21/what_is_a_kamishibai/> (27.01.2020), archiviert am 27.01.2020 unter <https://web.archive.org/web/20200127195215/https://blog.gembaacademy.com/2006/11/21/what_is_a_kamishibai/>. Eine Implementierung in der IT mittels eines speziell dafür angefertigten Boards findet sich im sehr sehenswerten „LEANability“-Videoblog-Beitrag „Lean Business Agility E018: Kamishibai“ unter <https://www.leanability.com/de/video-blog/2017/09/lean-business-agility-e018-kamishibai/> (27.01.2020). Ursprünglich bezeichnet „Kamishibai“ übrigens eine japanische Form des Papiertheaters – eine bildgestützte Erzähltechnik, bei der im Laufe der Erzählung verschiedene Bildkarten in einen die Bühne bildenden Holzrahmen geschoben werden.
- ↑ Alternativ dazu könnte man mittels mehrerer hintereinander eingesteckter Karten, von denen immer diejenige in der gerade aktuellen Farbe sichtbar ist, komplexere Status ermöglichen – bspw. analog zu den Farben von „Parking Lot Charts.“ „Grün-Rot-Malerei“ erscheint mir i. S. von Schwarz-Weiß-Malerei häufig als zu stark vereinfachend (vgl. hier und hier).
- ↑ Damit wird das Kamishibai tatsächlich zu einem vollumfänglichen Kaizen-Werkzeug.
- ↑ Um nicht von „daily standups“ zu sprechen.
- ↑ Also potentiell täglich!