Website-Icon Die Computermaler

Wirklich jeder kann zeichnen!

Tim Themann

„Ich kann nicht zeich­nen“ ist wohl einer der Sät­ze, die ich am häu­figs­ten höre. Ob in Trai­nings, Work­shops oder in Rou­ti­ne-Bespre­chun­gen – wo auch immer ich visu­el­les Den­ken, wo auch immer ich Steg­reif­vi­sua­li­sie­run­gen in die Situa­ti­on ein­füh­re, Men­schen bit­te, zu zeich­nen: Das „Ich kann nicht zeich­nen.“ folgt auf dem Fuße – und wirkt lei­der nur all­zu oft wie eine „self-ful­fil­ling prophecy“1.

Dabei konn­ten wir alle mal zeich­nen – jedes Kind kann zeich­nen und tut dies auch aus­gie­big, sobald es Stift und Papier (oder auch Stift und Tape­te o. ä.) zur Ver­fü­gung hat. Meist erläu­tern Kin­der ihre Zeich­nun­gen, füh­ren sie aktiv in das Gespräch ein – manch­mal gar als eine visu­el­le Unter­stüt­zung der Kom­mu­ni­ka­ti­on, die wir als Erwach­se­ne ver­lernt zu haben scheinen.

Nun wür­de sicher­lich nie­mand im Mee­ting auf­ste­hen, eine Visua­li­sie­rung ähn­lich der neben­ste­hen­den „Kopf­füß­ler“ auf das Flip­chart zeich­nen und den sel­ben Grad an Begeis­te­rung erwar­ten wie das drei­jäh­ri­ge Kind von sei­nen Eltern.

Die Ansprü­che sind im Lau­fe der Jah­re gestie­gen – die Ansprü­che an sich selbst, vor allem aber das, was man über die Ansprü­che der ande­ren denkt. Den­noch: Nur, weil man nicht mehr auf die bedin­gungs­lo­se Begeis­te­rung der Eltern ver­trau­en kann, gar nicht mehr zu zeich­nen – ob der anti­zi­pier­ten Ansprü­che das Flip­chart ein­fach gänz­lich links lie­gen zu las­sen – wäre wirk­lich scha­de; einem ent­gin­ge ein wert­vol­les Aus­drucks­mit­tel, eine groß­ar­ti­ge Ergän­zung der ver­ba­len Kom­mu­ni­ka­ti­on, die Kom­pli­zier­tes, manch­mal gar das Unaus­sprech­li­che erst kom­mu­ni­zier­bar macht​2.

Nun ist es offen­sicht­lich falsch, anzu­neh­men, wir hät­ten das Zeich­nen schlicht ver­lernt: Wir haben uns (fein‑)​motorisch und kogni­tiv gegen­über dem drei­jäh­ri­gen Kind mas­siv wei­ter­ent­wi­ckelt und zudem durch vie­le Jah­re vol­ler visu­el­ler Ein­drü­cke eine erheb­li­che „visu­al liter­acy“ auf­ge­baut, die wir in unse­re Visua­li­sie­run­gen ein­brin­gen kön­nen. Wir kön­nen also ohne Zwei­fel zeich­nen oder haben zumin­dest das Poten­ti­al dazu – und das auch auf jeden Fall viel „bes­ser“ als als Kind. Das Pro­blem ist nur: Die von uns anti­zi­pier­ten Ansprü­che Drit­ter an unse­re Zeich­nun­gen haben sich ungleich stär­ker ent­wi­ckelt als das, was wir über unse­re zeich­ne­ri­schen Fähig­kei­ten den­ken. Wir haben uns qua­si rechts über­holt – und das Visu­el­le ist dabei auf der Stre­cke geblieben.

Eines Tages waren wir alle ein­fach in dem Alter, in dem nicht mehr auto­ma­tisch jeder Erwach­se­ne unse­re Zeich­nung toll fand – und die­ser Schock sitzt tief! Dazu kommt, dass spä­tes­tens ab der ers­ten Klas­se mit (zuneh­mend weni­ger kra­ke­li­ger) Schrift mehr Aner­ken­nung zu hei­schen ist als mit (nach wie vor kra­ke­li­gen) Zeich­nun­gen – der Schwer­punkt unse­rer Bemü­hun­gen ver­la­gert sich fast zwangs­läu­fig ins Schriftsprachliche​3.

Irgend­wann wur­den wir womög­lich selbst unser schlimms­ter Kri­ti­ker – ich zumin­dest weiß nicht, wie vie­le Blät­ter Papier ich als Kind wütend zer­knüllt habe, weil der Kreis nicht rund genug, weil die Linie nicht gera­de genug war.

Heu­te weiß ich: Erkenn­bar­keit und erkenn­ba­re Mühe beim Zeich­nen sind für eine wirk­sa­me visu­el­le Unter­stüt­zung mei­ner Kom­mu­ni­ka­ti­on abso­lut hin­rei­chend. Natür­lich lässt sich die Wirk­sam­keit – und nur dar­auf kommt es wirk­lich an – einer Visua­li­sie­rung durch Qua­li­tät stei­gern (vgl. hier), aber Per­fek­ti­on ist nicht not­wen­dig – und es gibt sogar zu viel des Guten.

Jedes Kind kann zeich­nen – und jeder Erwach­se­ne umso bes­ser. Trau­en Sie sich!

Foot­no­tes:

  1.  Sehr schön beschrie­ben in: Schultz von Thun, Frie­de­mann: Auch Sie kön­nen aus dem Steg­reif visua­li­sie­ren!. In: Päd­ago­gik 10 (1994). S. 11.
  2.  Die kin­der­zeich­nung stammt übri­gens aus kei­ner „aktu­el­len“ Kri­se, son­dern aus Priš­ti­na und ist bereits 16 Jah­re alt. Kin­der malen schon sehr lan­ge – schon viel zu lan­ge – sol­che Bil­der. Neben­bei bemerkt löst Picas­sos „Guer­ni­ca“ bei mir nicht mehr und nicht weni­ger Gefüh­le aus als die­se Kinderzeichnung.
  3.  Womög­lich ist dies die Geburts­stun­de vie­ler mit Text bedeck­ten PowerPoint-Folien.
Die mobile Version verlassen