Lesen und zuhören
Erstaunlich viele Präsentationen1 haben den Charakter von Slideuments2, ähneln eher einem Textdokument als einer die Vortragsinhalte unterstützenden Visualisierung. Was die verbal geäußerten Inhalte visuell begleiten sollte, gibt eben diese (schriftlich) wieder, wird zum in kleinen „Folien-Häppchen“ parallel zur Verbalisierung dargereichten Redeskript – und erfüllt oftmals auch genau diese (bewusst oder nicht bewusst zugedachte) Funktion: Das Slideument dient als „Rettungsfloss im aufgewühlten Meer der Worte“ (vgl. „Ist PowerPoint wirklich gefährlich?“), der Referent projiziert aus lauter Angst, seinen Text zu vergessen, eben diesen an die Leinwand; der Projektor wird zum Teleprompter3.
„Googelt“ man nach „gleichzeitig lesen und zuhören“, findet man hunderte Artikel zur Gestaltung von Folien. Die These, gleichzeitiges Lesen und Zuhören sei nicht möglich, wird als das Standard-Argument schlechthin gegen die Verwendung von „bullet points“ angeführt – leider wird sie praktisch nirgendwo in angemessener Weise empirisch belegt. Meine persönliche Erfahrung ist jedoch, dass sie zumindest für mich und fast jeden, den ich dazu befragt habe, zutreffend ist. Pragmatisch erscheint es also trotz meines Wissens nach4 mangelnder wissenschaftlicher Absicherung sinnvoll, diese These quasi axiomatisch als zutreffend anzunehmen. Dies widerspricht übrigens nicht der verbreiteten (m. E. sehr plausiblen) These, es sei didaktisch sinnvoll, möglichst viele Sinne gleichzeitig anzusprechen: Geschriebener und gesprochener Text sprechen nur physisch unterschiedliche Sinne an – psycholinguistisch betrachtet passiert mit beiden sprachlichen Informationen praktisch dasselbe, es handelt sich also eher um eine potentiell überlastende „Dopplung“ als um breit gestreute unterschiedliche Reize.
Es macht also wenig Sinn, den gesprochenen Inhalt des Vortrags mehr oder minder vollständig (oder auch nur stichwortartig) auf den Folien zu wiederholen. Daraus die nicht wenig verbreitete Schlussfolgerung abzuleiten, textuelle Inhalte hätten auf einer Slide grundsätzlich nichts zu suchen, ist ähnlich kurz gegriffen wie die im ersten Teil dieser Serie kritisierte Kritik an der Sequenzialität. Textuelle Inhalte sind meines Erachtens in vielen Fällen durchaus sinnvoll – wenn nicht gar notwendig:
- Peritextuell, zum Beispiel im Falle einer Titel- und/oder Gliederungsfolie,
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Aufzählend – Aufzählungen sind aus Dialektik (z. B. als Drei- oder Fünfsatz) und Rhetorik (z. B. im Falle eines Tri- oder Tetrakolons) nicht wegzudenken. Sie mit wenigen oder einzelnen Wörtern in Form von „bullet points“ visuell aufzugreifen und zu untermalen, erscheint mir legitim und sinnvoll. Kognitionswissenschaftlich mäßig gut belegte „Regeln“ wie die „1 – 7‑7-Regel“5 sind bei dieser Form von „bullet points“ offensichtlich ohne Relevanz: komme ich überhaupt in die Verlegenheit, über die maximale Anzahl der Stichpunkte nachdenken zu müssen, habe ich offensichtlich bereits die sinnvollen Grenzen der dialektischen bzw. rhetorischen Figur überschritten und der Vortrag leidet inhaltlich –Â nicht nur die Folien optisch. Der Paratext – in diesem Fall die mit Text überladene Folie – ist auf bestem Weg, zu einer Art „PowerPoint-Zentraltext“6 des Vortrags zu werden – dies ist jedoch nicht Ursache, sondern Symptom eines bereits strukturell schlechten Vortrags.
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Als Teil der Visualisierung – nicht jeder Sachverhalt ist in einer Skizze eindeutig darstellbar, ohne auf ergänzend-/erläuternden Text zurückzugreifen. Wie z. B. sollte man einen gezeichneten Server für den unbedarften Betrachter eindeutig erkennbar als DNS-Server kennzeichen (vgl. das Kapitel „Abkürzungen und Akronyme“ [S. 90 ff.] in den „Computermalern“)?
- Als visuell-rhetorische Figur: Die Übertreibung ist als Hyperbel eine verbreitete und richtig eingesetzt durchaus wirksame rhetorische Figur, die auch eine visuelle Form annehmen kann (vgl. z. B. obige Abbildung). Eine beeindruckend große Menge an neuen Funktionalitäten einer neuen Produktversion ließe sich z. B. sehr gut durch eine praktisch nicht mehr lesbare Folie mit 20 oder 30 Stichpunkten visualisieren. Wichtig ist, dass im Vortrag der Charakter der Visualisierung als rhetorisches Stilmittel deutlich wird – und das Publikum nicht etwa denkt, es müsse die visualisierten textuellen Inhalte tatsächlich lesend rezipieren.
- Als „Untertitel“ – gleichzeitiges Lesen und Zuhören kann durchaus sinnvoll sein: Ist die Sprache des Vortrags nicht die Erstsprache des Referenten und/oder des Publikums – dies ist im zusammenwachsenden Europa immer öfter der Fall –, kann es durchaus hilfreich sein, zumindest die wesentlichen (womöglich schlecht aus‑)gesprochenen Inhalte des Vortrags auch parallel schriftlich auf den Folien nachlesen zu können.
Exkurs: „Meta-Kulturkritik“
Betrachtet man die kritische Auseinandersetzung mit Präsentationssoftware gerade im deutschsprachigen Raum, kann man sich bei genauerer Betrachtung kaum der Erkenntnis verschließen, dass ein großer Teil jener kulturpessimistischen PowerPoint-Kritiker, die am liebsten jeden einzelnen „bullet point“ individuell verteufeln würden, einer Generation entstammen, in der mittels einer Schreibmaschine eng beschriftete Overhead-Folien üblich, akzeptiert und durchaus nicht in der Kritik waren. Die bloße Digitalisierung (des Stichpunkts) an sich scheint das Problem in der Wahrnehmung einiger an diesem Diskurs Beteiligten erst zu einem Problem gemacht zu haben. Auf die Gefahr hin, zynisch oder gar ähnlich polemisch wie der eine oder andere PowerPoint-Kritiker zu wirken: Es erstaunt fast, dass noch niemand den großen pädagogisch-didaktischen Wert der Haptik einer Overhead-Folie gegenüber der eines Notebooks als Argument angeführt hat – oder aber z. B. die verbesserte Lernleistung durch die Verknüpfung der vermittelten Information mit den durch das (quietschende) Geräusch der Tafelkreide angeregten Emotionen. Beides ließe sich nötigenfalls bestimmt z. B. im Tierversuch pseudo-wissenschaftlich (heutzutage vermutlich auf Basis einer vermeintlichen „Erkenntnis“ der Neurologie) „belegen“ und am besten noch in Ratgeber-Form gießen.
Peritext
Meines Erachtens gibt es einen minimalen Peritext, der mit jeder Präsentation verbunden sein sollte: Eine Titel-Folie und eine (oder mehrere) sich ggf. wiederholende Agenda-Folien.
- Die Titel-Folie ist in ihrer Relevanz nicht zu unterschätzen: Zum einen ist sie das erste, was das Publikum zu sehen bekommt – der erste Eindruck, der bekanntlich als der Entscheidende gilt7. Zum anderen ist sie der Hintergrund, vor dem sich der Referent dem Publikum vorstellt – eine oftmals heikle und für viele Referenten angstbehaftete Situation. Die Titel-Folie ist oftmals die Folie, die am allerlängsten zu sehen ist – eben so lange, wie der Referent für seine einleitenden Worte und die Vorstellung benötigt. Umso mehr erstaunt, wie oft Titel und Titelfolie lieblos gewählt und gestaltet werden – es gibt kaum etwas Schlimmeres als ein Vortragstitel, der inhaltlich nichts sagt oder gar schlicht nicht stimmt, oder eine lieblos gestaltete Titel-Folie voller Tippfehler. Ein falscher Titel weckt falsche Erwartungen und verursacht Enttäuschungen, eine schlechte Titelfolie einen schlechten ersten Eindruck, der den Referenten verunsichert und den aufzuholen dann auf einmal dominierendes Meta-Thema des Vortrags wird.
- Agenda-Folien visualisieren die Struktur des Vortrags, stellen die Sequenz der Inhalte (vgl. die Anmerkungen zur Sequenzialität in Teil 1 dieser Serie) übersichtlich dar. Eine einleitende Agenda-Folie ermöglicht dem Referenten, seinen „Plan“ für den kommenden Vortrag zu erläutern, dem Publikum die „Reiseroute“ durch seine Gedankenwelt vorab anzukündigen. Wiederholungen dieser Folie ermöglichen, zu rekapitulieren, die aktuelle Position auf der „Reiseroute“ zu markieren und in die kommenden Themen überzuleiten. Der „rote Faden“ wird (und bleibt!) deutlich; die „Reiseteilnehmer“ fühlen sich nicht auf einer „Reise ins Ungewisse“, sondern sind orientiert und fühlen sich eingebunden8.
Anzunehmen, eine gute Struktur, ein guter Titel und ein in Agenda-Form regelmäßig wiederkehrend dargestellter „roter Faden“ könnten verhindern, dass jemand andauernd dem Vortrag durch „unpassende Zwischenfragen“ vorgreift, ist übrigens meiner Erfahrung nach zu optimistisch. Der eine Zuhörer in fast jedem Publikum, der mit seinen „Fragen“ immer „störend“ alles vorweg nimmt, tut dies in aller Regel nicht, weil er die Struktur nicht erfasst hat oder sich nicht gedulden kann, sondern, weil er qua seiner Persönlichkeit in einen Wettbewerb mit der durch unbewusste Übertragungen konstituierten „Autoritätsfigur“ des Referenten treten muss – daran kann auch die transparenteste Struktur nichts ändern.
Exkurs: Haiku Deck
Ebenso, wie die unüberschaubare Funktionalität moderner Präsentationssoftware zu didaktisch fragwürdigen wahren Animationsexzessen und vielfarbigen visuellen Explosionen verleitet, kann Software-Minimalismus zu hilfreicher Selbst-Beschränkung erziehen. Mit Haiku Deck (vgl. <http://www.haikudeck.com/>)9 existiert ein schönes Beispiel dafür: Die Funktionalität dieser iPad-App beschränkt sich (derzeit?10) darauf, Folienhintergrundbilder komfortabel zu suchen und dann in optisch sehr ansprechender Weise mit höchstens zwei (einer Titel-artigen und einer Untertitel-artigen) Zeilen Text zu versehen.
Haiku Deck erzeugt etwas, was ein eingefleischter PowerPoint-Nutzer quasi für eine Aneinanderreihung von Titel-Folien halten muss. Slideuments sind innerhalb der Software gar nicht erst erzeugbar – aber eben auch keine inhaltlich sinnvollen (s. o.) textuellen Inhalte oder gar Visualisierungen oder Diagramme. Haiku Deck dient mir somit praktisch also vor allem als komfortabler Editor nur für Teile einer Präsentation – und als ein schönes Beispiel dafür, dass sinnvolle und konstruktive Kritik nur allzu oft in erstaunlich unreflektierter Weise dogmatisch-dualistisch ins jeweilige absolute Gegenteil extrapoliert wird.
Update 09.03.2013: „Haiku Deck 2.0“
Update 18.06.2013: „Haiku Deck 2.1“
Update 11.01.2014: „Haiku Deck 2.4“
Der Teil 3 dieser Reihe widmet sich den Handouts zu Ihrem Vortrag und deren (manchmal recht fraglichen) Existenzberechtigung.
Footnotes:
- ↑ In diesem Text sind mit dem Wort „Präsentationen“ – sofern nicht explizit anders gekennzeichnet – die mit einem Präsentationsprogramm erstellten Visualisierungen, nicht der gesprochene Vortrag gemeint.
- ↑ Vgl. <http://www.presentationzen.com/presentationzen/2006/04/slideuments_and.html>.
- ↑ Und das trotz der Möglichkeit, stattdessen Folien-Notizen zu nutzen und diskret in die nur durch den Referenten sichtbare sog. „Referentenansicht“ einzublenden.
- ↑ Ich wäre übrigens durchaus dankbar, hier eines Besseren belehrt zu werden!
- ↑ Vgl. Google-Suche nach „1 – 7‑7 rule“. Die Regel wird gelegentlich auch als „1 – 5‑5-“ oder „1 – 6‑6-Regel“ bezeichnet. Sie geht zurück auf eine Fehl- bzw. Über-Interpretation der sog. Millerschen Zahl („Sieben plusminus Zwei“). Interessant ist, dass aus dem Intervall die Fünf, die Sechs und die Sieben herausgegriffen wurden, nicht aber die Acht oder die Neun. Ein gutes Indiz dafür, dass es sich bei der „Regel“ nur um eine willkürliche (allerdings praktisch durchaus nicht unplausible) Grenze handelt und hier nur eine pseudo-wissenschaftliche „Begründung“ gesucht wurde. Eine sehr schöne Zusammenfassung der Kritik an dieser Regel findet sich unter <http://ueberzeugend-praesentieren.de/blog/1_7_7_regel.html>.
- ↑ Vgl. Joachim Knape, Powerpoint in rhetoriktheroretischer Sicht, 2007 In: Schnettler, Bernt; Knoblauch, Hubert (Hrsg.), Powerpoint-Präsentationen. Neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz: 2007. S. 53 – 66.
- ↑ Für Präsentationen dürfte gar Frederick H. Lunds „Law of primacy in persuasion“ anwendbar sein.
- ↑ Und haben im Idealfall sogar eine Vorstellung davon, wann die nächste Raststätte angesteuert wird und sie auf die Toilette können.
- ↑ Haiku ist eine minimalistische japanische Form der Lyrik – dem einen oder anderen sicherlich bekannt durch Tassilo, den Hund von Strizz aus dem Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Interessant ist, dass analog zur „Zen“-Analogie Garr Reynolds‘ (<http://www.presentationzen.com/>) hier im selben Kontext erneut ein buddhistisch geprägtes Thema aufgegriffen wird.
- ↑ Da die Beschränkung Absicht ist, ist zu hoffen, dass sie im Laufe der Weiterentwicklung der App nicht zu sehr aufgeweicht wird.