Ich notiere viel – oft in Form von geschriebener Sprache, manchmal zeichnerisch in Form von diagramm-artigen „Mindscapes“, immer aber mit vielen oft erst später im Verlauf des Vortrags oder Meetings hinzugefügten Bezugs-Pfeilen und häufig in einer Mischung aus beidem. Meine Kollegen warnen Meeting-Teilnehmer, die mich noch nicht kennen, gern vor: Sie mögen nicht irritiert sein, ich würde immer so viel notieren. Auf Kongressen erntete ich früher oft komische Blicke. Mit zunehmender Verbreitung von Sketchnotes falle ich glücklicherweise nicht mehr so sehr auf – wobei ich das, was ich mache, meist irgendwie nicht Sketchnotes nennen möchte. Ich tue das schon immer und ich tue es vor allem für mich. Das Notieren ist fester und extrem wichtiger Bestandteil meiner geistigen Arbeit.
Etwas, das ich mich im Zusammenhang mit Sketchnotes häufig frage, ist: Für wen sind die eigentlich? Notizen macht man ja typischerweise für sich selbst – und meine Notizen sind niemals reine „Mitschriften“, sondern enthalten oftmals Anmerkungen auf der Meta-Ebene oder eigene, vom jeweiligen Vortrag „getriggerte“ Gedanken. Würde ich davon ausgehen, dass ich meine Notizen später veröffentliche, sie enthielten nur einen Bruchteil meiner Gedanken – viele wären mir zu unausgegoren für eine Veröffentlichung, einige wären mir womöglich sogar aus unterschiedlichsten Gründen peinlich. Die Aussicht auf Veröffentlichung würde das „Notieren als Teil meiner geistigen Arbeit“ vermutlich massiv hemmen – ich hätte irgendwie immer mein künftiges „Publikum“ im Hinterkopf.
Mike Rohde (<http://rohdesign.com>) begann, Sketchnotes zu zeichnen, weil ihm seine bisherigen, „normalen“ Notizen „so eine Last“1 wurden. Durch Sketchnotes wurde also etwas ersetzt, was ursprünglich nur einen Rezipienten hatte: den Notierenden selbst. In seinem Buch „Das Sketchnote-Handbuch“ regt er aber gleichzeitig an, Social Media zu nutzen und die eigenen Sketchnotes möglichst zu teilen2 – sicher auch getrieben von dem Gedanken, die Idee und die Begeisterung für Sketchnotes auf diese Weise zu verbreiten. Dieser Ansatz war und ist sehr erfolgreich (Twitter-Suche, Instagram-Tag „#sketchnote“ [benötigt eine Anmeldung], Google Trends3).
Ich weiß naturgemäß nicht, wer Sketchnotes nutzt und sie nicht veröffentlicht (es gibt noch keine „Dunkelfeld-Studie“ dazu 😉 ) – aber mein intuitiver Eindruck ist, dass die meisten „Sketchnoter“ ihre Sketchnotes veröffentlichen und einige sogar durch Sketchnotes erst zu Social-Media-Nutzern geworden sind. Das „Geteilt werden“ ist immanenter Bestandteil von Sketchnotes geworden – und das „Publikum“ wird dabei automatisch zu einem festen Faktor, der zwangsläufig berücksichtigt wird. Der Unterschied zwischen „Graphic Recording“ und „Sketchnotes“ ist eigentlich nur noch die Frage, ob das Publikum den Prozess der Verfertigung „live“ i. d. R. auf oder neben der Bühne beobachten oder ob es erst das fertige Werk als Social-Media-Post wahrnehmen kann. Naja – und natürlich die Größe ;‑).
Für die Verbreitung der Idee des visuellen Denkens ist das großartig. Ob es für das Notieren als geistige (Verarbeitungs‑)Arbeit gut ist, bezweifle ich inzwischen.
Sketchnotes, die man eben (auch) für die Veröffentlichung anfertigt, sind m. E. kein Ersatz für private Notizen. Es ist einfach etwas völlig anderes, ob ich „private“ Notizen anfertige oder ob ich etwas (auch) für Dritte visuell zusammenfasse: Visualisiere ich (auch) für Dritte, beginnt auf jeden Fall ein kommunikativer Akt – und ich mache mir beispielsweise zwangsläufig Gedanken über die Verständlichkeit und Erkennbarkeit für Dritte oder aber auch die meiner Visualisierung innewohnende Selbstkundgabe und das Bild, das ich und meine Zeichnung in der Öffentlichkeit abgeben. Die Intimität der ganz eigenen, persönlichen Notizen geht verloren – ersatzlos, denn ich kann ja nicht parallel beide Arten von Notizen anfertigen. Ersetzt man sein bisheriges Notieren durch mindestens gefühlt „Instagram-fähige“ visuelle Notizen, geht der geistigen (Verarbeitungs‑)Arbeit womöglich mehr verloren, als durch das mehr oder minder Visuelle gewonnen wurde.
Das Notieren ist mir meist zu persönlich und zu wichtig, um meine Notizen zu veröffentlichen. Nur sehr selten weiß ich vorab, ob meine ergänzenden Gedanken zu einem Vortrag oder einer Diskussion einer Veröffentlichung meiner Notizen entgegenstehen werden. Ich entscheide deswegen von vornherein, auf eine Veröffentlichung zu verzichten – egal, ob ich gerade besonders visuell notiere („sketchnote“) oder einfach nur „mitschreibe“. Nur so können meine Notizen frei und unbeeinflusst meine geistige Arbeit unterstützen.
Footnotes:
- ↑ Rohde, Mike: Das Sketchnote-Handbuch. Der illustrierte Leitfaden zum Erstellen visueller Notizen. Heidelberg: mitp 2014. S. X.
- ↑ Ebenda, S. 188 ff.
- ↑ Google Trends zeigt übrigens bei Einschränkung der Daten auf Deutschland einen extremen Ost-West-Unterschied; vgl. <https://trends.google.de/trends/explore?date=all&geo=DE&q=sketchnotes,sketchnote>. Ich finde das erstaunlich und habe keine befriedigende Erklärung dafür.