„Das hatten wir noch gar nicht!“

„Das hat­ten wir noch gar nicht!“ ist der wohl meist­ge­hör­te Satz, hilft man Schü­lern bei den Haus­auf­ga­ben. Die ver­meint­lich neue Her­aus­for­de­rung wird so in meist vor­wurfs­vol­lem Ton zur Zumu­tung erklärt. Die dahin­ter­ste­hen­de, oft recht gefes­tig­te Hal­tung „Ich muss genau den Fall schon ein­mal im Unter­richt gehabt haben, sonst ist die Auf­ga­be ‚unfair‘ “, mag unter Bequem­lich­keits­aspek­ten ver­ständ­lich sein, sie zeugt aber defi­ni­tiv nicht davon, dass die Schu­le an die­ser Stel­le beson­ders gut auf das Leben vorbereitet​1. Der Ver­dacht liegt nahe: Die dem Men­schen m. E. eigent­lich inhä­ren­te Freu­de am Lösen neu­er Pro­ble­me – am „har­te Nüs­se kna­cken“ – ist oft (ver­mut­lich schon über Gene­ra­tio­nen) min­des­tens teil­wei­se qua­si „weg-sozia­li­siert“.

Im „rich­ti­gen Leben“ begeg­nen einem nun ein­mal kon­ti­nu­ier­lich völ­lig neu­en Her­aus­for­de­run­gen – Pro­jek­te gar sind per defi­ni­tio­nem einmalig​2 und i. d. R. etwas jeweils Neu­es – und wol­len ohne gro­ßes Mur­ren gemeis­tert wer­den. Egal, ob als Grund­schü­ler oder als Erwach­se­ner mit womög­lich Jahr­zehn­ten Berufs­er­fah­rung: Das Neue auf Basis der bis­he­ri­gen Erfah­run­gen zu meis­tern, ist meist die Auf­ga­be – allein schon, weil die Welt um einen her­um sich ändert und Neu­es das Alte ersetzt. Den­noch erle­be ich bei­spiels­wei­se im tech­ni­schen Sup­port oft, dass Inci­dents ein­fach nur eska­liert wer­den, weil man sich mit dem Thema/​Problem nicht aus­ken­ne – eine erwach­se­ne Vari­an­te von „Das hat­ten wir noch gar nicht!“. Die Reak­ti­on dar­auf (und das ist in der Arbeits­welt oft nicht anders als in der Schu­le) ist meist, die Pro­blem­lö­sung in star­re Sche­ma­ta zu pres­sen, und Wis­sen so ver­meint­lich zu sozia­li­sie­ren – Unbe­kann­tes aber wird so nicht handhabbarer!

Auf einem Schiff sind 26 Scha­fe und 10 Zie­gen. Wie alt ist der Kapitän?

Und so ver­wun­dert es kaum, dass das, was man in der schu­li­schen Päd­ago­gik das „Kapi­täns­syn­drom“ nennt, in der Arbeits­welt der Erwach­se­nen in Form von Maslows Ham­mer (vor allem in Bezug auf Metho­den, vgl. hier und hier) wie­der auf­taucht. Sozia­li­sa­ti­ons­be­dingt wird oft nach fer­ti­gen, exakt pas­sen­den Sche­ma­ta gesucht, anstel­le zu abs­tra­hie­ren und so vor­han­de­ne Denk­struk­tu­ren durch sinn­vol­le Rekom­bi­na­ti­on anwend­bar zu machen (und neben­bei neue zu schaf­fen). Häu­fig wird mei­ner Erfah­rung nach lie­ber Unpas­sen­des pas­send gemacht – oder es wer­den METHODEN qua­si zur Reli­gi­on, also zum immer Pas­sen­den – erklärt. Die Idee, man müs­se sich ein­fach nur an die „rich­ti­ge“ For­mel erin­nern und dann rech­nen, ist uns qua­si anerzogen.

Ferner, Abstrakt lernt man denken durch abstraktes Denken - Georg Wilhelm Friedrich Hegel„Fer­ner, abs­trakt lernt man denken
durch abs­trak­tes Denken.“
(Georg Wil­helm Fried­rich Hegel)​3

Nun möch­te ich an die­ser Stel­le nicht die Vor­tei­le vor­ge­fer­tig­ter Metho­den leug­nen. Eine Text­auf­ga­be zu lösen, ist viel ein­fa­cher, wenn ich dazu in der Lage bin, Glei­chungs­sys­te­me zu lösen – aber es geht übri­gens auch ohne, durch „blo­ßes Den­ken“! Set­ze ich jedoch ein­fach nur die Anzahl der Scha­fe und Zie­gen in eine irgend­wann bereits erfolg­reich ver­wen­de­te Glei­chung ein, hel­fen mir mei­ne Alge­bra-Kennt­nis­se nicht wei­ter. Metho­den kön­nen hel­fen, auch Unbe­kann­tes zu meis­tern – aber mit Glei­chun­gen zu han­tie­ren, ohne sie ver­stan­den zu haben, führt i. d. R. nicht zum Ziel.

Metho­den wol­len erlernt und ziel­ge­rich­tet ange­wandt sein. Habe ich kei­ne pas­sen­de Metho­de in mei­nem Werk­zeug­kas­ten, so muss ich eine erler­nen; gibt es kei­ne, so muss ich eine schaffen.

Neue Pro­ble­me kom­men so oder so. Sie begeis­tert zu begrü­ßen – und vor allem kein Umfeld zu schaf­fen, das durch Sche­ma­ti­sie­rung das Gegen­teil begüns­tig – ist die m. E. prag­ma­tisch betrach­tet ein­zig sinn­vol­le Hal­tung. Und wir soll­ten ver­mei­den, das Alter des Kapi­täns zu berechnen.

Foot­no­tes:

  1.  Und das Eltern­haus übri­gens auch nicht, oft erscheint mir die­se Hal­tung über­nom­men zu wer­den: Beschwer­den über Auf­ga­ben, die „noch gar nicht ‚dran“ gewe­sen sei­en, höre ich häu­fig auch von Eltern.
  2.  DIN 69901.
  3.  Hegel, Georg Wil­helm Fried­rich: Georg Wil­helm Fried­rich Hegel’s [sic!] Wer­ke: Brie­fe von und an Hegel. Ber­lin: Dun­cker und Hum­blot 1835. S. 345. Bei Goog­le Books unter <https://​books​.goog​le​.de/​b​o​o​k​s​?​i​d​=​1​P​E​T​A​A​A​A​Q​A​A​J​&​h​l​=​d​e​&​p​g​=​P​A​3​4​5​#​v​=​o​n​e​p​a​g​e​&q&f=false>.

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