Vor einiger Zeit stellte ich in einem kritischen Artikel zum Thema „Mindmapping“1 die Behauptung auf, die wenigsten „in freier Wildbahn“ anzutreffenden Mindmaps seien „echte Mindmaps“ im Sinne Tony Buzans. Als „Beleg“ für diese Behauptung führte ich Google Bilder und den auf diesem Weg gewinnbaren zwar sehr deutlichen, aber dennoch recht oberflächlichen Eindruck an – jedoch ohne diesen wirklich durch Vergleich der einzelnen Mindmaps mit Buzans „Vorgaben“ quantitativ abgesichert zu haben.
Tony Buzan beschreibt auf seiner Homepage2 unter der Überschrift „7 Steps to Making a Mind Map“ sieben „Regeln“ für erfolgreiches und im Sinne der Methode wirksames Mindmapping:
- Querformatig: Eine Mindmap solle vom Zentrum eines quer liegenden Blattes ausgehen.
- Zentrales Bild: Die zentrale Idee solle durch ein Bild repräsentiert werden.
- Bunt: Die Mindmap solle insgesamt möglichst farbig sein.
- Monohierarchisch: Die Äste der ersten Ebene sollen mit dem zentralen Bild verbunden sein, die Äste tieferer Ebenen jeweils mit einer der höheren.
- Bogenförmig: Die Äste der Mindmap sollen bogenförmig (und nicht gerade) sein.
- Einwortig: Pro Ast solle lediglich genau ein Wort als Beschriftung dienen.
- Bebildert: Die gesamte Mindmap solle umfangreich bebildert sein.
Nach Buzans Theorie dienen diese „Regeln“ der Erzielung des kreativ-kognitiven Effekts, der mit dem Mindmapping verbunden sei. Da dieser Effekt ein wesentliches Argument für die Nutzung der Methode ist, lohnt sich ein Blick auf den status quo – inwieweit werden Mindmaps in der Praxis eigentlich tatsächlich nach den „Vorgaben“ Buzans gestaltet, inwieweit hätte der kreativ-kognitive Effekt (so es ihn den gäbe) überhaupt eine Chance, sich zu entfalten?
Die heutzutage einfachste Methode, zu einer Stichprobe verschiedener Mindmaps zu kommen, dürfte Google Bilder sein: Eine Suche nach „Mindmap“3 führt sehr einfach zu einer Stichprobe von 100 Mindmaps. Es ist anzunehmen, dass diese Stichprobe alles andere als repräsentativ ist und dass diese Mindmaps im Gegenteil eher prototypisch sind – sucht Google Bilder den Suchausdruck doch vor allem auch im das jeweilige Bild umgebenden Text. Die Stichprobe stellt also vermutlich eher den bestmöglichen Fall dar – die Mindmaps dürften sich größtenteils im Kontext von Erläuterungen zur Methode des Mindmappings befunden haben. Dies sollte bei der Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt werden. Zudem ist die Stichprobe alles andere als groß; nur überdeutliche Ergebnisse können als faktisch angenommen werden. Da es an dieser Stelle jedoch lediglich darum geht, einen aus langjähriger Anschauung gewonnenen sehr deutlichen Eindruck zu verifizieren, dürfte die Stichprobengröße hinreichend und der angenommene prototypische Charakter der Stichprobe geradezu hilfreich sein: Bestätigt sich der Eindruck dennoch, dürfte er für eine weniger prototypische Auswahl umso mehr gelten. Trotzdem ist an dieser Stelle festzuhalten: Eine fundierte statistische Untersuchung sieht anders aus; die Ergebnisse sind eher als eine Art „Streiflicht“ auf den status quo zu betrachten – aber meines Erachtens in vielen Punkten hinreichend deutlich, um Schlussfolgerungen zu ziehen.
Von den 100 gefundenen Mindmaps waren 94 downloadbar, eine erwies sich als Doublette, eine weitere Datei war defekt und acht Dateien waren nicht sinnvoll auswertbar4. In der Stichprobe verblieben also 84 Mindmaps, die durch manuelle Durchsicht hinsichtlich der eingangs erwähnten Kriterien ausgewertet wurden. 25 (30 %) dieser Mindmaps erwiesen sich als „Meta-Mindmaps“, d. h. Mindmaps, die entweder Mindmapping selbst zum Thema haben oder beispielsweise eine Art „Vorlage“ für Mindmaps5 dienen – ein deutliches Zeichen dafür, dass die Annahme, die Art der Stichprobengewinnung begünstige eher prototypische Mindmaps, richtig ist.
40 % der Stichprobe (34 Mindmaps) erwiesen sich als handgemalt. Dieser Anteil ist höher als ob der Verbreitung von Mindmapping-Software erwartet. Besonders interessant ist, dass 10 von 25 der „Meta-Mindmaps“, also ebenfalls exakt 40 %, handgemalt sind. Für diese „Meta-Mindmaps“ wäre meines Erachtens ein höherer Anteil zu erwarten gewesen – gelehrt wird das Mindmapping nach meinem Eindruck meist ohne Softwareunterstützung. Es wird sich jedoch im Rahmen der weiteren Untersuchung zeigen, dass Mindmaps, die vom Mindmapping handeln, in der Praxis keinesfalls „besser“ im Sinne Buzans sind.
Querformat
96 % der Stichprobe ist breiter als hoch respektive querformatig – ein aufgrund der horizontalen Schreibrichtung der meisten Sprachen wenig verwunderlicher Sachverhalt, den ich nicht als einen besonders hohen Grad von „Regeleinhaltung“, sondern vielmehr als Ergebnis eines pragmatischen Umgangs mit der zur Verfügung stehenden Fläche erachten würde.
Zentrales Bild
Lediglich 46 % der untersuchten Mindmaps gehen von einem zentralen Bild aus; mehr als die Hälfte der Mindmaps startet mit einem (oft gerahmten, wobei die Gestaltung des Rahmens meist in keinem Zusammenhang zum Inhalt steht) zentralen Text (i. d. R. mehrere Wörter). Ähnliches gilt für die „Meta-Mindmaps (11 von 25 entsprechend 44 %). Damit ist diese „Regel“ Buzans die in der Praxis fast am wenigsten beachtete – einige Softwareprodukte zum Mindmapping unterstützen gar überhaupt kein zentrales Bild als Ausgangspunkt der Mindmap.
Bunt
Ein Fünftel (21 %) der betrachteten Mindmaps sind weitgehend monochrom, Gleiches gilt für 5 der 25 (20 %) „Meta-Mindmaps“.
Als „bunt“6 hingegen würde ich rund zwei Drittel (68 % insgesamt, 64 % der „Meta-Mindmaps“) der Mindmaps betrachten.
Monohierarchisch
89 % der betrachteten Mindmaps sind streng monohierarchisch, lediglich 11 % weisen Verstöße gegen die monohierarchische Struktur auf (beispielsweise „wieder zusammenfließende“ Zweige oder nicht verbundene „Ableger“). Insbesondere für das softwaregestützte Mindmapping ist dies wenig erstaunlich; die meisten Softwareprodukte zwingen den Anwender mehr oder minder stark zu einer monohierarchischen Struktur. Zusätzlich zur Baumstruktur eingefügte Querverbindungen zwischen Ästen – etwas, das praktisch jede Mindmapping-Software ermöglicht – sind in lediglich 17 % der Mindmaps zu finden. Dies wiederum erstaunt – sind doch die meisten Sachverhalte meines Erachtens ohne solche Querverbindungen nur sehr eingeschränkt abbildbar. Offenkundig wird die strenge Beschränkung auf monohierarchische Taxonomien und der damit in der Regel verbundene Informationsverlust von vielen Menschen nicht nur hingenommen, sondern auch nicht als Problem wahrgenommen – andernfalls würde die Möglichkeit, Querverbindungen zu erstellen, sicherlich häufiger genutzt.
Bogenförmig
Obwohl der Standard vieler aktueller Versionen verbreiteter Softwareprodukte für das Mindmapping ein eher „kantiges Design“ mit geraden, abgewinkelten Ästen vorsieht, weisen 84 % der Mindmaps bogenförmige Äste auf. Auf den ersten Blick ist zu vermuten, dass viele der in der Stichprobe enthaltenen Mindmaps relativ alt sind – vor einigen Jahren war ein eher „organisch“ aussehendes, bogenförmiges Design noch der Standard der meisten Produkte.
Einwortig
Fast die Hälfte (45 %) der Mindmaps weisen tatsächlich entsprechend der „Regeln“ Buzans in weitgehend der gesamten Mindmap nur ein Wort pro Ast auf. Diese nach meinem bisherigen Eindruck eher untypisch häufige „Regeleinhaltung“ ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Art und Weise, wie die Stichprobe gewonnen wurde, höchstwahrscheinlich prototypische Mindmaps begünstigt und diese Untersuchung somit also eher den state of the art als den status quo zum Gegenstand hat.
Andere Untersuchungen zum Aspekt der Wortanzahl pro Ast fallen deutlich anders aus; so wurden in einer Stichprobe ausschließlich am Computer erstellter Mindmaps mittlere Wortanzahlen von 4,8 (Median 3) und bis zu einige hundert bis tausend Wörter in einzelnen Ästen nachgewiesen, andererseits enthielten auch in dieser Stichprobe 29,91 % der Äste nur ein Wort7 – unklar ist allerdings, wie sich diese Wortanzahlen auf unterschiedliche Mindmaps verteilen bzw. in wie vielen dieser Fälle eine gesamte oder ein Großteil einer Mindmap nur ein Wort enthielten.
Bebildert
Ähnlich wie bei der Anzahl der Farben zeigen sich hier harte Kontraste: Die Mindmaps in der Stichprobe sind entweder komplett frei von jedweder Illustration (40 %) oder hochgradig visuell: Mehr als die Hälfte der Mindmaps weisen fünf und mehr zusätzliche, d. h. nicht das zentrale Thema darstellende, Bilder auf.
Farbe und Bebilderung – Visualität – sind die beiden Eigenschaften einer Mindmap im Sinne Buzans, denen meines Erachtens auf jeden Fall ein positiver Effekt insbesondere auf das Erinnern an die Inhalte zuzuschreiben ist8. Umso bestürzender ist die Menge an monochromen, extrem schriftlastigen Mindmaps in der Stichprobe; Mindmaps übrigens – darauf sei erneut hingewiesen –, die teilweise dazu dienen sollen, das Mindmapping zu erklären!
Zusammenfassung
Ginge man davon aus, dass die „Regeln“ Buzans für das Mindmapping notwendige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einsatz der Methode sind, sind die Ergebnisse dieser Untersuchung erschreckend: Obwohl aufgrund der Gewinnungsmethode (Google-Bildersuche nach „Mindmap“) zu vermuten ist, dass die Stichprobe eher prototypische, i. S. Buzans „gute“ Mindmaps enthält, weist fast die Hälfte der untersuchten Mindmaps drei oder mehr „Regelverstöße“ auf. Der überwiegende Teil der untersuchten Mindmaps ist eher der Kategorie der „Common Mind Maps“9 zuzuordnen. Selbst falls die kognitionswissenschaftliche Untermauerung der Methode gültig wäre: Der Effekt käme nur selten zum Tragen.
Mindmaps, die sich mit Mindmapping beschäftigen, sind kaum stärker an Buzans Vorstellungen angelehnt, als andere Mindmaps – es scheint fast so, als hätte sich die Methode von ihren Wurzeln entfernt und würde oft nur noch durch unvollständige „Überlieferung“ weitergegeben.
Dazu kommt: Das, was meines Erachtens bei all meiner Kritik an Mindmaps gut ist (vor allem das Visuelle), kommt nur in etwa der Hälfte der Fälle zum Tragen; das, was meines Erachtens das Denken beschränkt (das Monohierarchische und die Beschränkung auf einzelne Wörter) ist geradezu omnipräsent.
Der Verdacht liegt nahe, dass die beobachtete reduzierte und quasi degenerierte Form des Mindmappings häufig vor allem der Vermeidung einer fundierten Ausarbeitung dient – sei es als „echte“, hochgradig visuelle Mindmap oder als (meines Erachtens zu präferierend) schlüssiges Textdokument.
Footnotes:
- ↑ Vgl. „Mindmaps – trotz Karte im eigenen Hirn verirrt?“.
- ↑ Buzan, Tony: „Mind Mapping“, <http://www.tonybuzan.com/about/mind-mapping/> (17.03.2014).
- ↑ Eine Suche nach „Mind Map“ oder „Mind-Map“ liefert übrigens exakt dasselbe Ergebnis in leicht anderer Reihenfolge.
- ↑ Zum Beispiel Screenshots von Mindmapping-Programmen, auf denen die eigentliche Mindmap nur teilweise erkennbar ist.
- ↑ Etwas, das Tony Buzan wahrscheinlich für abwegig halten würde.
- ↑ Als „bunt“ wurde eine Mindmap betrachtet, wenn mehr als fünf Farben oder mehr Farben als die Anzahl der Hauptäste (falls diese kleiner als fünf ist) sinntragend (also beispielsweise als Ast- oder Textfarbe) eingesetzt wurden.
- ↑ Vgl. Beel, Joeran und Langer, Stefan: An Exploratory Analysis of Mind Maps. In: Proceedings of the 11th ACM Symposium on Document Engineering (DocEng’11), Mountain View, California, USA, S. 81 – 84 2011. <http://docear.org/papers/An%20Exploratory%20Analysis%20of%20Mind%20Maps%20 – %20preprint.pdf> (18.03.2014).
- ↑ In diesen beiden Punkten dürfte z. B. die „dual-coding theory“ von Allan Paivio anwendbar sein.
- ↑ Zur Unterscheidung von „Common Mind Maps“ und „Buzan Mind Maps“ vgl. <http://www.informationtamers.com/WikIT/index.php?title=Common_mind_maps>, archiviert am 13.08.2013 unter <http://www.webcitation.org/6Iqimzyrg>.