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Visuelle Archaismen – oder: Nicht über „4.0“ reden und „1.0“ oder „2.0“ zeichnen

Tim Themann

Möch­te man mög­lichst erkenn­bar visua­li­sie­ren, zeich­net man meist Ste­reo- oder Arche­ty­pi­sches – im Zusam­men­hang mit Men­schen und vor allem Men­schen­grup­pen droht schnell die „Kli­schee-Fal­le des Visua­li­sie­rens“. Glück­li­cher­wei­se zeich­ne ich meist eher (Informations‑)​Technisches.

Inter­es­san­ter­wei­se droht aber auch beim Visua­li­sie­ren moderns­ter Tech­no­lo­gien eine Art „Kli­schee-Fal­le“ – nur anders: Das, was als ver­meint­lich arche­ty­pisch visua­li­siert wird, ist oft schlicht­weg ein Ana­chro­nis­mus – das visu­el­le Wort eigent­lich ein „visu­el­ler Archais­mus“ und soll­te eigent­lich schon längst „aus­ge­stor­ben“ sein.

Ver­an­stal­tun­gen zur Digi­ta­li­sie­rung, zu neu­en Medi­en oder irgend­ei­nem „4.0“ wer­den oft­mals visu­ell beglei­tet oder doku­men­tiert, indem Tele­fo­ne mit Wähl­schei­ben, mit Anten­nen gespick­te (womög­lich „lächeln­de“) Röh­ren­fern­se­her oder uralt anmu­ten­de Desk­top-PCs gezeich­net wer­den – und ein mit der eigent­lich längst obso­le­ten Anten­ne visua­li­sier­tes Mobil­te­le­fon geht pro­blem­los als Zeich­nung eines Smart­phones durch.

Spra­che beein­flusst das Denken1 – auch unse­re Bild­spra­che! Um in den aktu­el­len Schlag­wor­ten zu spre­chen: Wir soll­ten nicht über „4.0“ reden und dann „1.0“ oder „2.0“ zeichnen. 

Sicher­lich hilft die Anten­ne des „Smart­phones“ dabei, den Aspekt des Draht­lo­sen visu­ell zu expli­zie­ren (das Nicht-Smart­phone und der Desk­top-PC oben stam­men übri­gens aus mei­nem 2012 erschie­ne­nen Buch und waren eigent­lich schon damals ana­chro­nis­tisch), ande­rer­seits könn­te man pro­blem­los visua­li­sie­ren, was die Desi­gner die­ser Gerä­te tat­säch­lich getan haben: Die Anten­ne weg­las­sen und trotz­dem fun­ken. Was das Iko­ni­sche (i. S. Charles S. Peirce) betrifft, scheint klar: Eine zeit­ge­mä­ße Visua­li­sie­rung ist mög­lich. Wir müs­sen es nur tun.

Etwas anders sieht das beim Sym­bo­li­schen aus – und gera­de im IT-Bereich ist vie­les, was wir zeich­nen, fast zwangs­läu­fig sym­bo­lisch: Abs­trak­tes kann man meist nur ent­we­der meta­pho­risch-iko­nisch oder rein sym­bo­lisch visua­li­sie­ren (vgl. bspw. hier und hier). E‑Mails mögen einen „body“ haben, kör­per­lich sind sie jedoch nicht, die Anlei­he an den ana­chro­nis­tisch wir­ken­den Brief erscheint fast unum­gäng­lich – auch wenn eine Post­kar­te sicher­lich die bes­se­re Meta­pher für eine unver­schlüs­sel­te E‑Mail wäre (vgl. hier).

Was mit Verschlüs­selung zu tun hat, wird in der Regel durch visu­el­le Kom­po­si­ta2 visua­li­siert, deren Bestand­teil u. a. ein Schlüs­sel ist. Meta­pho­risch-iko­ni­sche Sym­bo­le beru­hen häu­fig auf eher alten Bil­dern – und ihre lan­ge Bekannt­heit als Bild­me­ta­pher ist beim Visua­li­sie­ren von Abs­trak­tem sicher­lich hilfreich.

Etwas pro­ble­ma­ti­scher erschei­nen mir Sym­bo­le, die frü­her ein­mal Iko­nen waren. Sobald das Abge­bil­de­te eigent­lich nicht mehr zu unse­rer Erfah­rungs­welt gehört – womög­lich nur noch tief unten in der Schreib­tisch­schub­la­de oder gar im Muse­um zu fin­den ist –, kommt es zu so etwas wie einer semio­ti­schen Ver­schie­bung: Aus dem Ikon wird ein Sym­bol, die Bezie­hung von Abbil­den­dem zum Abge­bil­de­ten ist nicht mehr die der visu­el­len Ähn­lich­keit, son­dern beruht auf Zuschrei­bung. Visu­el­le Wör­ter und Topoi unter­schei­den sich hier nicht von gespro­chen-sprach­li­chen: Kaum jemand weiß noch, dass sich die Rede­wen­dung „aus dem Steg­reif“ auf den Steig­bü­gel („Steg­reif“) bezieht, man „aus dem Steg­reif“ han­delt, indem man etwas tut, ohne dafür auch nur vom Pferd abstei­gen zu müs­sen. So viel anders ist es z. B. mit der Dis­ket­te als visu­el­le Meta­pher für „spei­chern“ tat­säch­lich nicht – und semio­tisch betrach­tet ist sie schon jetzt ein Sym­bol und kein Ikon mehr.

Jetzt könn­te man natür­lich sagen, das sei ein eher theo­re­ti­scher Unter­schied. Dem ist m. E. jedoch nicht so – vor allem nicht, wenn man über die Zukunft, über Neu­es, visua­li­siert: Ein Ikon zeigt, was (im Jetzt) ist und hat das ver­mut­lich grö­ße­re Poten­ti­al, neue Gedan­ken anzu­re­gen. Ein Sym­bol funk­tio­niert nur, wenn die Kon­ven­ti­on, die ihm Bedeu­tung gibt, schon im Kopf ist – kommt also ohne „alt­her­ge­brach­te Gedan­ken“ nicht aus, ist ohne „Alt­her­ge­brach­tes“ unverständlich.

Möch­te man wirk­sam i. S. von visu­el­lem Den­ken über die Zukunft visua­li­sie­ren, soll­te man m. E. visu­el­le Archais­men mei­den und zeit­ge­mä­ße Bil­der ver­wen­den. Lasst uns unse­re liebgewordene(n) Bildsprache(n) entrümpeln!

Foot­no­tes:

  1.  Die sog. Sapir-Whorf-Hypo­the­se.
  2.  Zum The­ma „visu­el­le Kom­po­si­ta“ vgl. bspw. hier.
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