Vermutlich ist es ein Zeichen steigenden Alters: Ich stelle fest, dass ich immer mehr Methoden, von denen ich vor einigen Jahren noch aus heutiger Sicht geradezu unreflektiert begeistert war, zunehmend kritischer betrachte – selbst, wenn es (vermeintlich?) um Methoden des von mir ja gerade in diesem Blog oft empfohlenen visuellen Denkens geht. Eines dieser von mir immer kritischer betrachteten Werkzeuge ist das Mindmapping.
Nachdem Tony Buzan (<http://www.tonybuzan.com>) das Mindmapping1 im Jahre 1974 in der Fernsehserie (und dem gleichnamigen Buch) „Use Your Head“2 der Öffentlichkeit vorstellte, trat diese Methode schnell den Siegeszug um die Welt an. Inzwischen existieren unzählige kommerzielle3 und freie4 Werkzeuge zum Erstellen von Mindmaps am Computer; Mindmapping ist aus Schule und Unterricht, aber auch aus vielen Unternehmen kaum noch wegzudenken. Tony Buzans Behauptung, Mindmapping käme der Struktur des menschlichen Gehirns und des Denkens besonders entgegen5, passt zudem in den aktuellen Trend einer meines Erachtens wenig humanistischen und häufig kaum wirklich empirisch abgesicherten (oft pseodo‑)neurologischen „Mechanisierung“ der Vorstellung von Kognition und insbesondere Lernen.
„Echte“ Mindmaps
Tony Buzan formuliert in seinen Büchern7 und z. B. auch auf seiner Website8 recht klare Vorstellungen davon, was eine „echte“ Mindmap und vor allem deren Genese ausmache – Vorstellungen, die ich in der Praxis in den seltensten Fällen umgesetzt sehe:
- Zentrum einer „echten“ Mindmap solle immer ein Bild sein, auch die übrige Map solle viele Bilder enthalten: Die wenigsten „Mindmaps“, die ich zu sehen bekomme, enthalten überhaupt irgendwelche Bilder – bestenfalls werden Zweige durch mit der Software mitgelieferte Icons markiert.
- Mindmaps sollen farbig und die Zweige geschwungen sein: Auch dies ist nicht besonders verbreitet. Letzteres scheint nicht der aktuellen Vorstellung von Design9 zu entsprechen, ersteres beobachte ich ebenfalls erstaunlich selten.
- Ein Zweig oder Unterzweig solle mit nur genau einem (sic!) Wort beschriftet werden. In der Praxis erlebe ich Zweigbeschriftungen, die durchaus James Joyce hätten vor Neid erblassen lassen10.
Eine Google-Bildersuche fördert es zutage: Unabhängig davon, was man inhaltlich von diesen Empfehlungen und deren Begründung halten mag (s. u.) – viele Mindmaps sind keine Mindmaps im Sinne Tony Buzans; insbesondere meist nicht jene, die am Computer (und nicht auf Papier oder am Flipchart) erstellt wurden.
„Common Mind Maps“
Der Unterschied zwischen der (softwaregestützten) Mindmapping-Praxis und der schönen Theorie (und den ebenfalls schönen Maps) Buzans ist so evident, dass die Website InformationTamers.com <http://www.informationtamers.com> für ersteres einen eigenen Begriff eingeführt hat: „Common Mind Maps“12 oder auch (meist bei entsprechend geringer Tiefe) „Spider Maps“. Allein die Tatsache, dass für etwas ein Begriff existiert, macht es jedoch noch lange nicht sinnvoll13:
„Hirngerecht?“
Ginge man davon aus, dass Tony Buzans neurologische Begründung für die Sinnhaftigkeit des Mindmappings valide sind, wäre die „Degeneration“ des Mindmappings zu „Common Mind Maps“ womöglich gar fatal: Die Methode wäre der Grundlage ihrer Effektivität entkleidet. Wie gesagt: Meines Erachtens ist Buzans Argumentation in höchsten Maße fragwürdig; ihre Grundlage – eine stark vereinfachte Vorstellung von der Lateralisation des Gehirns – vor dem Hintergrund des Forschungsstandes nicht richtig. Andererseits: Nur, weil, die Begründung unrichtig ist, muss nicht das Begründete in Gänze falsch sein: An der Empfehlung, Farbe und Bilder zu nutzen, kann kaum etwas falsch sein – es gibt zwar wenig fundierte Forschung dazu und auch die Idee des „mit allen Sinnen Lernens“ wird mancherortens in fragwürdiger Weise übertrieben16, es gibt aber andererseits vermutlich kaum Pädagogen oder Psychologen, die sinnhaftem Einsatz von Farben und Bildern seine Berechtigung absprechen würden17. Es ist also durchaus zu vermuten, dass „Common Mindmaps“ effektiver wären, würde mehr Farbe und würden mehr Bilder eingesetzt.
Tony Buzans Empfehlung hingegen, pro Zweig nur exakt ein Wort zu verwenden, kann per se zumindest nicht sprachübergreifend in dieser Schärfe sinnvoll sein: Die Lexemstruktur der Sprachen unterscheidet sich teils massiv, die „Informationseinheit“ „ein Wort“ hat je nach Sprache einen völlig anderes „semantisches Gewicht“ – das Englische als die Muttersprache Buzans neigt z. B. im Gegensatz zum Deutschen nicht zur Bildung von Komposita. Selbst wenn die Aussage für das Englische richtig und „gehirngerecht“ wäre – wofür es keinen mir bekannten wissenschaftlichen Beleg und auch keine mir nachvollziehbaren neurolinguistisch begründeten „Anzeichen“ gibt18 –, gälte sie nicht zwangsläufig für andere Sprachen und wird spätestens dann geradezu absurd, wenn man versucht, sie auf logografische Schriftsprachen wie z. B. die chinesische Schrift anzuwenden. Zudem erscheint der Verzicht auf jedwede Wort-Kombination vor dem Hintergrund der extremen Betonung des Assoziativen durch Buzan geradezu widersprüchlich – sind es doch gerade diese Kombinationen, die häufig den Beginn einer Assoziationskette darstellen. Es gibt also wenig gute Gründe, die Begründung als richtig anzunehmen – und mindestens einen wichtigen Grund, die Empfehlung zu ignorieren: Die ungewohnte Denkarbeit, jeden Ast auf ein Wort zu reduzieren, bindet meines Erachtens Denkleistung, die besser im kreativen Prozess angelegt wäre.
Im eigenen Hirn verirrt?
Wie eingangs bereits angemerkt: Zeichne ich eine „Mindmap“, enthält diese am Ende oft mehr Querverbindungen als Äste. Offensichtlich erscheint mir die Welt (womöglich begründet durch das bereits angeführte steigende Alter) immer weniger taxonomisch-monohierarchisch und immer mehr ontologisch19. Die Dinge erscheinen zunehmend weniger einfach und linear, die Wahrnehmung für Interdependenz nimmt zu. Betrachtet man die Evolution von Mindmapping-Softwarewerkzeugen, bin ich offensichtlich nicht allein mit meinem Problem: Praktisch jedes verfügbare Werkzeug ermöglicht Querverbindungen (mit oder ohne womöglich beidseitige Richtungspfeile) und bricht damit mit der durch die Syntax der Mindmap eigentlich vorgegebenen (mono‑)hierarchischen Struktur. Zudem ermöglichen viele Produkte das automatische Nummerieren mindestens der Hauptzweige und bringen so Sequenzialität in die Mindmap. Gemessen an der ursprünglichen Idee der Mindmap ist dies eine Flickschusterei an der visuellen Grammatik – und vor allem auch ein deutliches Zeichen dafür, das nicht-sequentielle, monohierarchische Strukturen den Nutzern offenbar doch nicht so geeignet zur Repräsentation ihrer Gedanken und ihres Wissens erscheinen.
Vermeiden lässt sich dieser Einfluss auf das Denken nur, indem man Mindmaps ausschließlich für Gedankengebilde verwendet, von denen man sich sicher ist, dass sie eine monohierarchische Struktur aufweisen. Letztlich macht diese Einschränkung Mindmaps als Werkzeug zum freien Denken unbenutzbar: Ich muss bereits a priori sicher wissen, dass das darzustellende Gedankengebilde monohierarchisch ist – und kann mir später eigentlich nie sicher sein, ob ich es nicht durch die Wahl der Methode und die Beschränkungen der (visuellen) Grammatik erst dazu habe gleichsam degenerieren lassen. Vermeiden kann ich dieses Risiko eigentlich nur, indem ich Mindmaps ausschließlich für Dinge einsetze, die per definitionem eine monohierarchische Taxonomie aufweisen22.
Ausgehend von obigem Gedanken frage ich mich, ob Mindmaps nicht vielleicht nur deswegen vielen nur so geeignet für Lernen und Lehre erscheinen, weil sich damit bereits Gegliedertes hervorragend darstellen lässt: Mindmaps erscheinen als ideales Werkzeug zum Exzerpieren – leider nur unter Verlust der inhaltlich womöglich wichtigen Sequentialität23 und ohne jede Querverbindung von Sachverhalten24.
- Eine Mindmap weist immer genau ein zentrales Thema auf. Abhängig von der Wahl des zentralen Themas entstehen vollkommen unterschiedliche Mindmaps. Eine ungeeignete Wahl des zentralen Themas führt potentiell in eine gedankliche „Sackgasse“ beim Erstellen der Mindmap. Ist das Thema nicht so strukturiert, dass ein eindeutig identifizierbares zentrales Thema existiert – die Welt neigt nun einmal zu mehr Komplexität, als einem oft lieb ist –, ist die jeweilige Themenwahl des Autors auf jeden Fall subjektiv und potentiell willkürlich – sie determiniert jedoch stark den weiteren Prozess. Anders wäre es womöglich, falls das zentrale Thema lediglich als „Überschrift“ am oberen Rand des Blattes zu finden wäre – und nicht in der Mitte der Mindmap als einzig „zulässiger“ Ausgangspunkt des dadurch bereits a priori stark vorstrukturierten visuellen Denkprozesses.
- Auch die Wahl der Hauptäste ist für die weitere Struktur der Mindmap entscheidend – wird jedoch oft nach „gefühlter Wichtigkeit“ anstelle tatsächlicher taxonomischer Stellung getroffen: Ich habe vielfach beobachtet, dass Dinge aufgrund ihrer wahrgenommenen Relevanz in Hauptäste eingetragen werden, obwohl sie strukturell „tiefer“ in der Hierarchie unter einen anderen Hauptast gehören. Auf diese Weise werden Kategorien und Kategorie-Ebenen der entstehenden Taxonomie unzulässig vermischt und das Gesamtbild ungewollt verzerrt – klare(re)s Denken ist so kaum zu erwarten; (Selbst‑)Manipulation ist vorprogrammiert.
- Hauptäste mit vielen Unterpunkten wirken optisch viel „mächtiger“ als solche mit wenigen oder gar keinen Unterpunkten – es ist jedoch keinesfalls zwingend, dass sie wirklich wichtiger sind. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: Die Aspekte, über die ich am wenigsten weiß (und in der Mindmap in Form von Unterzweigen festgehalten habe) verdienen oft eine höhere Aufmerksamkeit; wenig Unterzweige sind meist ein Zeichen für ausstehende Denkarbeit. Optisch jedoch wirken Äste mit vielen Unterästen mächtiger; es entsteht ein verzerrter Eindruck der Relevanz. Hierarische Strukturen haben zudem generell das Problem, dass Wichtiges absichtlich oder unabsichtlich in den Tiefen der Hierarchie versteckt und dort auch meist nur in der Tiefe der Ebene entsprechend kleiner Schrift dargestellt wird26.
- Ist ein Aspekt nicht monohierarchisch einzuordnen, wird er oft einfach mehrfach an unterschiedlichen Stellen der Mindmap eingetragen. Durch diese quasi sinn-spaltende Doppelung entstehen Redundanzen – und der Überblick über die tatsächlichen Zusammenhänge, darüber, wie ein Aspekt insgesamt einzuordnen ist, geht potentiell verloren.
Der überwiegende Teil der Mindmaps, die heutzutage erstellt werden, werden mit speziell dafür vorgesehenen Software-Werkzeugen erstellt. Im Gegensatz zur Arbeit auf Papier oder am Fipchart ist am PC das nachträgliche Umstrukturieren der Äste sehr einfach möglich – die bisher erwähnten Probleme durch sich später als ungünstig oder falsch erweisende Strukturentscheidungen sind also – ein entsprechendes Bewusstsein vorausgesetzt – einfach lösbar. An eben diesem Bewusstsein – wenn nicht gar am bewussten Werkzeugeinsatz an sich – scheint es jedoch oft zu mangeln; Mindmaps werden allzu oft ohne Reflektion über die Methode und deren Eignung für den jeweiligen Zweck erstellt – (sehr) frei nach Abraham Maslow: „Wenn Du einen Hammer hast, ist jedes Problem ein Nagel.“
Zweckentfremdung
Grundsätzlich könnte man einfach jedwede Nutzung des Mindmappings, die nicht absichtlich und bewusst der Bildung einer monohierarchischen Taxonomie dient, als Zweckentfremdung der Methode betrachten. Erstaunlich häufig möchte man jedoch tatsächlich „in Bäumen denken“ (s. u.) – und zweckentfremdet dennoch. Die beiden meiner Erfahrung nach häufigsten Zweckentfremdungen verdienen eine besondere Würdigung:
Ich erlebe oft, dass Mindmaps in der Kommunikation quasi als informationstragende Nachricht eingesetzt werden – sei es als Handout im Meeting oder gar als Präsentation27. Dies ist eine meines Erachtens häufig wirklich problematische Zweckentfremdung: Jeder Sachverhalt – jede Ontologie –, den ich zum Beispiel in Form einer Concept-Map vollständig darstellen kann, ist durch (meist deutlich) mehr als eine monohierarchische Taxonomie – also Mindmap – abbildbar: Abhängig von der Wahl des zentralen Themas und der Frage, welche Beziehungen zwischen den Begriffen (Pfeile in der Concept-Map) „Äste“ meiner Mindmap werden, entstehen unter Reduktion des Informationsgehalts unterschiedliche Mindmaps.
Die Darstellung von Sachverhalten in Mindmaps ist also per se eine subjektive Reduktion der kompletten Ontologie auf eine mögliche Untermenge. Ein anderer Mensch könnte ausgehend von seinem Hintergrund, seinen Interessen und Schwerpunkten eine komplett andere Mindmap des selben Sachverhalts erzeugen. Ein auf Mindmaps gestützter Kommunikationsvorgang ist also eine (absichtlich und womöglich manipulativ oder – noch schlimmer – unbewusst) auf jeden Fall unvollständige Kommunikation eines Sachverhalts – und enthält auf der Metaebene zudem Informationen über die individuelle Sicht des Mindmappenden auf den Sachverhalt. Insbesondere letzteres mag womöglich sehr interessant (oder auch peinlich!) sein – insgesamt jedoch erscheint die Mindmap aufgrund der hochgradigen Subjektivität der Sicht als wenig geeignet zur kommunikativen Vermittlung von Inhalten. Es ist eben eine Karte meines Gehirns – mit der andere potentiell nichts anfangen können und die ich manchmal vielleicht besser für mich behalten sollte. Man kann sich mit Mindmaps trotz „Karte“ nicht nur im eigenen Hirn verirren, sondern eben erst recht andere in die Irre führen.
Mindmaps werden erstaunlich häufig als Werkzeug zum Brainstorming bezeichnet und eingesetzt; einschlägige Softwarewerkzeuge bieten gar einen „Brainstorming-Modus“. Mindmapping an sich war nie zu diesem Zweck gedacht. Im Rahmen der Sammlungsphase des Brainstormings erfolgt grundsätzlich noch keinerlei Strukturierung; die ungeordnete und vor allem nicht bewertete Sammlungsphase ist der Methode immanent. Die Methode des Mindmappings kann hier also wenig beitragen – und Verwirrung stiften, da mitten im unstrukturierten Sammeln „in Bäumen zu denken“ begonnen wird. Die Ergebnisse eines Brainstormings als Mindmap zu clustern, ist sicherlich möglich – ein zumindest ähnliches Ergebnis wie im Falle der üblichen Pinnwandmoderation wird man jedoch nur erzielen, wenn man die Beiträge als Unteräste vorerst unbenannter Äste clustert und diese erst benennt, nachdem alle Begriffe geclustert sind. Cluster a priori zu benennen, wäre eine Änderung der Methode des Clusterns und würde praktisch immer ein anderes Ergebnis erzeugen.
Das richtige Werkzeug richtig anwenden
Folgt man dem bisher Dargelegten, gibt es vor allem zwei gute Gelegenheiten für den Einsatz von Mindmaps:
- Entweder, ich weiß sicher und a priori, dass der darzustellende Sachverhalt monohierarchisch strukturiert ist oder …
- … mein Ergebnis muss oder soll monohierarchisch werden.
Ersteres ist wie gesagt eigentlich nur der Fall, wenn das Darzustellende per definitionem monohierarchisch ist. An dieser Stelle mag verwirren, dass der Übergang zwischen beiden Fällen fließend ist – schön zu sehen an folgendem Beispiel: Ein Projektstrukturplan28 z. B. ist zwar per definitionem monohierarchisch, die Kategorien der Taxonomie sind jedoch nicht fest definiert – ich kann einen solchen Plan nach Projektphasen, aber auch z. B. nach den involvierten Organisationsteilen oder der Stuktur des zu erstellenden Produkts strukturieren. Es sind also trotz scharfer Definition als eine monohierarchische Struktur mehrere Mindmaps zur Darstellung ein und desselben Sachverhalts denkbar – dies ist jedoch Eigenschaft des Darzustellenden, nicht Ergebnis der Methode. In jedem Fall muss das Ergebnis monohierarchisch sein – Mindmaps erscheinen eine geeignete Darstellungsform.
Ein typisches Beispiel für zweiteren Fall ist das Erstellen einer Gliederung: Das Ergebnis – die Gliederung – muss monohierarchisch werden; die Beschränkungen der Darstellungsform können insofern nicht stören. Auf der anderen Seite ist eine Gliederung auch immer sequentiell – im Gegensatz zu einer Mindmap. Fraglich ist also, ob eine einfache textuelle Darstellung in Form einer hierarchischen Liste der Aufgabenstellung nicht womöglich gerechter wird.
Beschränkt man die Nutzung von Mindmaps auf die eingangs angeführten Gelegenheiten, ist der Vorteil einer stark visuell geprägten Darstellung – einer „Buzan Mind Map“ im Gegensatz zu einer „Common Mind Map“ – ernsthaft fraglich. Dies gilt jedoch meines Erachtens nicht für freiere, vom Korsett des Hierarchischen befreite Darstellungsformen:
Alternativen
Betrachtet man die möglichen Alternativen zum Mindmapping, stellt sich zuerst die Frage, ob wirklich eine starre Methodik – eine andere „visuelle Grammatik“ – notwendig ist oder ob es nicht vielleicht gar am besten sein könnte, die Freiheit der Gedanken in einer freien Darstellung ihren Spiegel finden zu lassen. Eine ausgeprägte „visual literacy“ vorausgesetzt, kann man mit freien Visualisierungen alle Gefahren einer syntaktischen Beschränkung des Denkens vermeiden – anders formuliert: Wenn Sie ausreichend „sprechend“ visualisieren, benötigen Sie keine starre visuelle Grammatik, um verständlich zu sein – und ohne das enge Korsett der graphischen Syntax fließen Ihre Gedanken ungleich freier29! Aus („Common“) Mindmaps werden so hochgradig visuelle „Mindscapes“30, in denen nicht die Regeln der Darstellungsform als Methodik das Denken begrenzen, sondern (hoffentlich methodisches) Denken quasi frei „auf das Papier fließt“.
Sollten Sie dennoch eine feste Methodik der Darstellung benötigen, wählen Sie Methoden, deren visuelle Syntax Ihnen ontologische Aussagen gleichwertig zu taxonomischen erlaubt, die Sie nicht zum (mono‑)hierarchischen Strukturieren zwingt. An erster Stelle fallen mir hier Concept-Maps ein:
Concept Maps nach Joseph D. Nowak stammen aus dem pädagogischen Bereich und sind stark durch ein konstruktivistisches Bild des Lernens geprägt – ein Bild, das sehr gut zu den Anforderungen der modernen Arbeitswelt – dem „Life-Long-Learning“, vor allem dem Selbst-Lernen auf Basis des vorhandenen Wissens und der eigenen Erfahrungen – passt. Concept Maps spiegeln zudem sehr gut Marc Prenzkys Vorstellungen vom Denken der „digital natives“31 wieder.
Verlassen wir die höheren Sphären der Pädagogik und kehren wir zurück zu unserer eigentlichen Profession – der IT und damit der Informatik: Concept Maps erinnern stark an übliche graphische Notationen des Object-Role Modeling (ORM). Eine hochformalisierte Weiterentwicklung der Concept Maps hat speziell zur Representation von Wissen mit den sog. Topic Maps einen festen Platz in der Informatik gefunden. Wir treffen also quasi auf einen „alten Bekannten“ – Concept Maps erscheinen auf einmal viel weniger „branchenfremd“ und „esoterisch“32.
Der Grad an Formalisierung von Topic Maps im Vergleich zur einfachen Concept Map ist für das freie „visuelle Denken“ sicherlich weder nötig noch hilfreich – aus Sicht eines ITlers (der Zielgruppe dieses Blogs) gibt die Verwandschaft der Concept Maps zu bekannten Werkzeugen aber vielleicht das „gute Gefühl“, eine der eigenen Profession angemessene Methode zu nutzen.
Um bei der „Sicht des ITlers“ zu bleiben: Eine der ersten Fragen, die ein IT-affiner Mensch an dieser Stelle stellen wird, ist die nach dem zur Erstellung der Concept Maps am besten zu nutzenden Software. Ich persönlich würde für das „freie visuelle Denken“ gar keine Software nutzen – Papier und Stift (oder eine hinreichend flexible (Mal- bzw. Zeichen‑)Software z. B. auf einem Tablet) engen am wenigsten ein. Ein Whiteboard – womöglich kombiniert mit Haftnotizen für die einzelnen „Concepts“ – oder eine Moderationswand ermöglichen die gemeinsame Arbeit an einer Concept-Map33. Fühlen Sie sich als ITler mit Papier nicht wohl oder gar in Ihrer Profession gekränkt, existieren verschiedenste Softwareprodukte zur Erstellung von Concept Maps und ähnlichen Diagrammen. Die obenstehende Concept-Map ist mit dem freien „Visual Understanding Environment“ (VUE, <http://vue.tufts.edu>) der Tufts University erstellt; eine Auswahl weiterer relevanter Softwareprodukte bietet die „List of concept- and mind-mapping software“.34 (<http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_concept-_and_mind-mapping_software>).
Für welche Methode und (in einem optionalen zweiten Schritt) für welche Software Sie sich auch immer entscheiden – vergessen Sie bitte nie: Es ist nicht nur wichtig, nicht den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen; manchmal ist es viel wichtiger, keine Bäume zu sehen, wo gar keine sind35 – so reizvoll auch die Idee erscheinen mag, den Baum des Wissens durch reine Methodik aus dem eigenen Kopfe zwingen zu können.
Footnotes:
- ↑ Dies ist die vom Duden für das Deutschen empfohlene Schreibweise (vgl. <http://www.duden.de/rechtschreibung/Mindmap>); „Mind-Map“ ist zwar möglich, jedoch nicht empfohlen. Im British English scheint „Mind Map“ vorherrschend zu sein. Einige Schreibweisen des Begriffs sind unter anderem in Deutschland ein eingetragenes Warenzeichen.
- ↑ Vgl. <http://www.mind-mapping.org/blog/mapping-history/roots-of-visual-mapping/>.
- ↑ Die „offizielle“ Software findet sich unter <http://thinkbuzan.com>. Im deutschsprachigen Raum weist nach meinem Eindruck der „MindManager“ (<http://www.mindjet.com/de/>) die mit Abstand größte Verbreitung auf.
- ↑ Zum Beispiel FreeMind (<http://freemind.sourceforge.net/wiki/index.php/Main_Page>). Das englischsprachige Wikipedia verfügt über eine umfangreiche Liste freier Mind- und Concept Mapping-Werkzeuge (vgl. <http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_mind_mapping_software#Non-paid_software>).
- ↑ Vgl. z. B. Tony Buzan, Barry Buzan: Das Mind-Map-Buch: Die beste Methode zur Steigerung Ihres geistigen Potenzials. 1., aktualisierte und erweiterte Aufl. München: mvg Verlag 2013, S. 53 – 56.
- ↑ Vgl. <http://www.informationtamers.com/WikIT/index.php?title=Mindscaping>, archiviert am 13.08.2013 unter <http://www.webcitation.org/6Iqj8BROO>.
- ↑ Vgl. Tony Buzan, Barry Buzan, a. a. O., S. 61 ff.
- ↑ Vgl. <
http://www.tonybuzan.com/about/mind-mapping/> (25.09.2013). - ↑ In älteren Versionen einschlägiger Software waren Zweige standardmäßig relativ dick und geschwungen – dieses Design ist meist einem sehr nüchternen „modernen“ Design auf Basis gerader Linien gewichen. Ein „offizieller“ Teil der Methode selbst ist hier der Mode geopfert worden.
- ↑ Mir persönlich drängt sich spontan die Frage auf, ob der „Ulysses“ jemals mehr als eine Seite lang geworden wäre, hätte Joyce Mindmapping gekannt.
- ↑ Bemerkenswert ist, dass dieselben Menschen häufig beim Erstellen von Präsentationen ein komplett anderes Design-Paradigma zugrundezulegen scheinen und uns mit wahren Farb- und Animations-Explosionen beglücken.
- ↑ Zur Unterscheidung von „Common Mind Maps“ und „Buzan Mind Maps“ vgl. <http://www.informationtamers.com/WikIT/index.php?title=Common_mind_maps>, archiviert am 13.08.2013 unter <http://www.webcitation.org/6Iqimzyrg>.
- ↑ Die Tendenz, Degeneriertes durch Neologismen quasi zu adeln, lässt sich auch anderswo beobachten – falls Ihnen nicht sowieso sofort unzählige Beispiele aus Ihrer täglichen Arbeit einfallen: Fragen Sie einen Immobilienmakler.
- ↑ Vgl. z. B. ThinkBuzan Ltd. (Hrsg.): „Mind Mapping: Scientific Research and Studies“ unter <http://b701d59276e9340c5b4d-ba88e5c92710a8d62fc2e3a3b5f53bbb.r7.cf2.rackcdn.com/docs/Mind%20Mapping%20Evidence%20Report.pdf> (25.09.2013), S. 32 – 33 und S. 41 – 43. Meiner Erfahrung nach behaupten die meisten Autoren von Veröffentlichungen zum Mindmapping, die Methode sei geeignet, die „beschränkende“ Lateralisation quasi zu „überwinden“ und auf diese Weise ungenutzte Potentiale zu entfalten.
- ↑ Eine schöne Zusammenfassung inklusive der notwendigen Kritik an einer ganzen Reihe im Gegensatz zu Buzans Ansatz sogar potentiell gefährlicher Überinterpretationen findet sich unter <http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnRechtsLinks.shtml>.
- ↑ Zum Beispiel im Falle der sog. „Suggestopädie“.
- ↑ Sieht man einmal von doch recht amüsant zu lesenden Mindermeinungen wie z. B. (eher zynisch geprägt) unter <http://www.faith-center-hannover.de/Mind_Mapping.pdf> ab.
- ↑ (Schrift‑)Sprachverarbeitung funktioniert so einfach nicht – und viele Lexeme erhalten erst im Kontext eine eindeutige Bedeutung, gerade das macht viel des von Buzan so betonten Assoziativen aus.
- ↑ Vgl. auch <http://de.wikipedia.org/wiki/Ontologie_(Informatik)>.
- ↑ Ein vergleichbares Problem lässt sich übrigens nach meiner Erfahrung für sog. Fishbone- oder Ishikawa-Diagramme beobachten.
- ↑ Sprache – auch visuelle – neigt dazu, das Denken zu beeinflussen (wenn nicht gar zu determinieren) – vgl. die Sapir-Whorf-Hypothese.
- ↑ Zum Beispiel Projektstrukturpläne, Gliederungen von Texten u.ä.
- ↑ Zu Nutzen und Kritik an Sequentialität vgl. „Guter Vortrag – trotz der Slides (Teil 1)“.
- ↑ Interessant finde ich, dass auf diese Weise womöglich dieselben Pädagogen, die eigentlich einen konstruktivistischen Ansatz zu verfolgen glauben, ihren Schülern beibringen, ihre Gedanken in Hierachien zu pressen.
- ↑ Anderslautende kosmogonische Vorstellungen erfreuen sich in jüngster Zeit nur noch wenig Beachtung – vgl. z. B. Yggdrasil, siehe rechtsstehende Abbildung.
- ↑ Ein vergleichbarer Effekt ist für hierarchische Listen von „bullet points“ in Präsentationsprogrammen festzustellen – vgl. z. B. Edward Tuftes Kritik an PowerPoint in Tufte, Edward R.: The Cognitive Style of PowerPoint. Pitching Out Corrupts Within. 2. Aufl. 2006. Cheshire, Connecticut: Graphics Press 2006.
- ↑ Erstaunlich viele Softwarewerkzeuge für das Mindmapping verfügen über einen genau dafür vorgesehenen „Präsentationsmodus“.
- ↑ Vgl. z. B. „Einfache Projektplanung am Whiteboard“.
- ↑ Tony Buzan hat also im Ergebnis meines Erachtens womöglich – sicherlich auch und nicht zuletzt aufgrund von falscher Verwendung seiner Methode – Kreativität eher begrenzt als im Sinne des Apells „Use Your Head“ „freigesetzt“.
- ↑ Vgl. <http://www.informationtamers.com/WikIT/index.php?title=Mindscaping>, archiviert am 24.09.2013 unter <http://www.webcitation.org/6JseNBbvT>.
- ↑ Vgl. <http://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf> – was auch immer man von Prenzkys Ausführungen halten mag.
- ↑ Letzteres hingegen kann man sicherlich guten Gewissens von einigen Veröffentlichungen über Mindmaps behaupten, s. o.
- ↑ Vgl. das Kapitel „Zu Beschreibendes“ in den „Computermalern“ (S. 15 ff).
- ↑ Bei der Literatur dieser Liste ist es meines Erachtens durchaus nicht nötig, über alle reinen Mindmapping-Produkte „hinwegzulesen“ – sie haben wie oben dargelegt durchaus ihre Berechtigung und ihren Einsatzzweck.
- ↑ Mit Ramon Llulls „Arbor scientiae“ lässt sich der Baum als eine dominante Idee der Logik (und damit auch Informatik) über Gottfried Wilhelm Leibnitz bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Die metaphorische Verknüpfung von Baum und Erkenntnis ist offenkundig sogar viel älter. Es ist darüber hinaus meines Erachtens nicht verwunderlich, dass Llulls eingehende Beschäftigung mit zwei monotheistischen Religionen aufgrund des ihnen i. d. R. eigenen Hangs zu Dualismen zu monohierarchischen (Denk‑)Strukturen führte – und dass eben solche Strukturen das wissenschaftliche Denken in Europa bis heute prägen und als „natürlich“ begriffen werden.