Wenn ich eine Leinwand kaufe, dann ist sie leer. Andernfalls kaufe ich ein Bild. Gleiches gilt für Flipcharts, Whiteboards und Moderationswände – mehr „Vordruck“ als ein einfaches Karo braucht es nicht, mehr „A‑priori-Visualisierung“ erscheint mir als eine mich unangemessen einschränkende Vorwegnahme dessen, was kommen soll. Visuelles Denken und das Unterstützen von kreativen (Gruppen‑)Prozessen durch Visualisierungen lebt m. E. von der Freiheit, von der unendlichen Flexibilität des leeren Blattes.
Beobachten tue ich allerdings im Moment einen völlig anderen Trend: In Beratung und Moderation erlebe ich immer häufiger, dass fertige „Formulare“ – sogenannte „Canvas“1 – zu unterschiedlichsten Themen und Anwendungszwecken2 das leere Blatt verdrängen. Vorgefertigte, idealerweise groß ausgedruckte „Denkvorlagen“ werden genutzt, um den Denkprozess zu „strukturieren“ – mit dem Ergebnis, dass statt eines mehr oder minder visuell unterstützten Denkprozesses oft eher das Rätseln über das auszufüllende „Formular“ den Prozess bestimmt.
Nun ist es nicht so, dass etwas gegen strukturiertes Vorgehen spräche – und auch eine „Checkliste“, die sicherstellt, dass alle wichtigen Aspekte eines Themas erörtert werden, kann keinesfalls schaden. Dennoch bringt die Nutzung dieser „Canvas“ m. E. zweierlei Problemfelder mit sich:
- Zum einen neigt das Formularhafte dazu, die inhaltliche Arbeit im Übermaß geradezu zu determinieren.
- Zum anderen fehlt der auf nur ein einzelnes Blatt reduzierten und extrem vereinfachten Anwendung des jeweiligen Konzeptes oft die theoretische Fundierung.
Tütensuppen-Denken
Uns Deutschen sagt man nach, die Determiniertheit eines Formulars zu mögen3. Dennoch tun wir uns meist schwer mit dem Ausfüllen von Vordrucken. Analog dazu kann man beobachten, wie ganze Arbeitsgruppen (womöglich gemeinsam mit einem externen Berater) darüber rätseln, was denn nun genau in Felder wie „Value Propositions“ oder „Constraints“ einzutragen ist – ein deutliches Zeichen dafür, dass es besser gewesen wäre, „das Buch zum Formular“ auch zu lesen.
Praktisch jedes der in „Canvas“-Form gebrachten Denk-Konzepte beruht auf einem umfangreichen theoretischen Hintergrund; genau genommen stammen zumindest die fundierteren „Canvas“ aus einem das jeweilige Konzept erläuternden4 Buch oder zumindest einer umfangreicheren Veröffentlichung5 (und die weniger fundierten sind eben leider wenig fundiert). Bei genauerer Betrachtung ist die eigentliche „Leinwand“ vermutlich gar nicht das „Formular“, sondern vielmehr der „Denk-Raum“, den das jeweilige Buch aufzuspannen versucht. Erstaunlich häufig beobachte ich aber, dass eben dieses Buch vom jeweiligen Anwender des Konzeptes allerhöchstens überflogen oder gar überhaupt nicht gelesen wurde. Der praktische Umgang mit „Canvas“ ähnelt oft dem heutzutage üblichen Umgang mit Software (oder besser „Apps“): Einfach erstmal loslegen, bloß kein Handbuch lesen – schnell den „Canvanizer“ <https://canvanizer.com> starten, ein bisschen das Formular ausfüllen und die Strategie oder das Projekt stehen! Probleme kann man ja notfalls schnell „googeln“.
Ein formularhaftes „Canvas“ für den (Selbst‑)Beratungsprozess zu nutzen, ohne dessen theoretische Grundlagen wirklich durchgeistigt zu haben, ist „Tütensuppen-Denken“; ist, als bezeichne man das Zubereiten von Fertigsuppen als „kochen“: Natürlich kann man heißes Wasser über den Beutelinhalt geben – Ergebnis ist aber naturgemäß eine eher mittelmäßige Tütensuppe. Ein großartiges Geschmackserlebnis ist kaum zu erwarten – und erst recht keine Überraschung oder gar etwas Neues. Dem durchschnittlich glutamat-geprägten Gaumen dürfte das kaum auffallen – und Menschen, die noch nie wirklich eine Suppe selbst gekocht, womöglich nie eine selbst gekochte Suppe gegessen haben, wissen möglicherweise gar nicht, was ihnen entgeht. Ganz ähnlich erscheinen mir viele Beratungsprozesse, in denen ob der vermeintlichen Strukturiertheit beeindruckte Klienten vom Berater durch das Ausfüllen eines fast kontextfrei aus dem Internet geladenen (unter Umständen mangels Hintergrundkenntnissen auch noch massiv zweckentfremdeten) Formulars geführt werden. Betreutes Formular-Ausfüllen ist keine Beratung, „Formular-Ausfüll-Helfer“ sind keine Berater6 – ebenso, wie man durch das Aufgießen von heißem Wasser nicht zum Koch wird.
Dazu kommt, dass mir das gesamte „Business-Bücher“-Genre in einer Art Eklektizismus-Falle gefangen scheint: Viele der aktuellen „Business-Bücher“ wirken auf mich wie ein Sammelsurium unterschiedlichster miteinander vermischter, quasi „wiedergekäuter“ klassischer Gedanken. Dabei werden die zugrundeliegenden Ideen m. E. häufig nur unvollständig wiedergeben und die (mir zumindest) wichtige Ideengeschichte stark verkürzt oder gar unterschlagen. Die metaphorische „Tütensuppe“ ist also oft sehr dünn, es fehlt die Grundlage. So erscheint es mir beispielsweise zu wenig fundiert, sich lediglich auf Basis der aktuellen „Business-Buch-Mode“ mit (naturgemäß immer aktuellen) Fragen der strategischen Positionierung zu beschäftigen, ohne z. B. auch Michael Porter gelesen zu haben.
Aber auch das Lesen vieler (Koch‑)Bücher macht einen nicht zu einem besseren Tütensuppen-Zubereiter – was mich zum zweiten Kritikpunkt führt:
Formularhaftes Denken
Auch der wohlklingende Anglizismus kann nicht darüber hinwegtäuschen: Ein „Canvas“ ist ein Formular. Formulare haben klar vorgegebene Felder fester Größe, die mit exakt vorgegebenen Inhalten zu füllen sind. Innerhalb dieser Grenzen bewegt sich das Denken – und diese Grenzen werden übrigens weder durch tolle, farbige Haftnotizen noch durch Visualisierungen wirklich erweitert. Das Ausfüllen eines Formulars wird durch visuellere Gestaltung kein inhaltlich kreativerer Akt. All dies sind allerhöchstens Geschmacksverstärker in der Tütensuppe des formularhaftes Denkens.
Lassen Sie mich die Problematik des Formularhaften an einem Beispiel illustrieren – am eigens (und nur!) dafür entwickelten „Perfect Dinner Canvas“ („PDC“):
- Fehlendes wird nicht bearbeitet und fällt kaum auf: Inhaltlich bearbeitet wird auf Basis eines „Canvas“ meist nur, was auch ausgefüllt werden muss. Eine Menü-Planung auf Basis des „PDC“ ließe also womöglich recht trockene Gaumen zurück, findet das Thema „Wein- bzw. Getränkeauswahl“ doch keine Erwähnung. Auffallen würde das möglicherweise nicht, erweckt das Formular doch aufgrund der Erwähnung von „Apéritif“ und „Digestiv“ diesbezüglich den Eindruck hoher Detailliertheit – wenn nicht gar der Vollständigkeit. Auf die Idee, das Formular anzupassen, käme man allerdings sowieso kaum, denn …
- … das geschlossene Design hält von situativen Anpassungen ab; das wohlgestaltete und meist vollständig mit Feldern gefüllte Blatt erscheint dem Ausfüllenden als unveränderliches Denksystem. Um in der Tütensuppen-Metapher zu bleiben: Natürlich kann man versuchen, die Trockenerbsen vor dem Aufgießen von Wasser heraus zu sammeln, wenn man keine Erbsen mag. Auch kann man nach dem Aufgießen kosten und nachwürzen. Die Rezeptur wirklich grundlegend zu variieren, ist jedoch bei einer Tütensuppe kaum möglich. Situative Anpassungen gar nicht erst zu erwägen, begrenzt den möglichen „Denk-Raum“, denn …
- … die „Formular-Felder“ determinieren extrem das Denk-Ergebnis: Ob im Vorwege eines Abendessens explizit „Jokes & Stories“ vorbereitet werden oder nicht, dürfte maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf des Tischgesprächs haben – und vermutlich keinen besonders guten. Hat man erst einmal akzeptiert, dass das Formular vollständig ausgefüllt werden muss, bemerkt man kaum noch, dass einzelne Aspekte womöglich (im Allgemeinen oder im jeweiligen speziellen Fall) weniger sinnvoll sind. Update: Auch die Benennung der „Formular-Felder“ (12.09.2017) und ihre Reihenfolge (23.01.2018) spielen m. E. eine große Rolle.
- Selbst die Größe der Felder beeinflusst das Ergebnis – die Tendenz, den jeweils zur Verfügung stehenden Platz möglichst vollständig zu füllen, ist groß. Über größere „Formular-Felder“ wird also eher mehr nachgedacht – beispielsweise dürften diese beiden Varianten ein vollkommen unterschiedliches Tischgespräch erzeugen:
Platzmangel kann zudem dazu verleiten, Wichtiges nicht vollständig auszuformulieren – womöglich also auch gar nicht in Gänze zu durchdenken. Mit den vier Gängen und der (unvollständigen, s. o.) Getränkeauswahl beispielsweise wirkt die dritte Spalte des Canvas zwar auf den ersten Blick umfassend und vollständig, Platz zur Benennung oder gar für eine sinnvolle Beschreibung der einzelnen Gerichte gibt es aber tatsächlich kaum. Andererseits ist der Beschreibung z. B. der „Place Cards“ mehr Platz eingeräumt worden – rein durch die visuelle Gestaltung des Formulars werden (potentiell fragwürdige) Prioritäten impliziert.
Nun könnte der Eindruck entstehen, ich hielte die hinter den verschiedenen Canvas stehenden Ideen für per se schlecht. Das ist keinesfalls der Fall: Eine durchdachte und vor allem auch verstandene Struktur ist m. E. Grundlage jedes Denk- bzw. Beratungsprozesses. Bringt man diese Struktur allerdings in Formular-Form, fließen mir zu viele A‑priori-Annahmen ein, wird mir zu viel vorweggenommen oder durch die visuelle Aufbereitung als Formular geradezu souffliert. Eine (gern auch visuell angereicherte) Agenda oder ein einfacher „Spickzettel“ erscheinen mir viel weniger tütensuppen-artig (Update 04.02.2018: vgl. hier). Stellen Sie den Wasserkocher ab, reißen Sie die Tüte gar nicht erst auf. Kein Formular kann eine fundierte Struktur und eine stringente Methodik ersetzten – hat man aber beides, reichen auch eine leere Moderationswand oder ein leeres Flipchart.
Footnotes:
- ↑ Engl.: „Leinwand“, aber auch „[Öl-]Gemälde“. Vgl. z. B. <https://de.wiktionary.org/wiki/canvas>. Gemeint sein dürfte hier eher die Leinwand, die es zu füllen gilt.
- ↑ Eine umfangreiche Auflistung von verschiedensten „Canvas“ findet sich bspw. unter <https://canvanizer.com/blog/methods/the-canvas-revolution>
<https://canvanizer.com/blog/methods/the-canvas-revolution.html>, archiviert am 07. Juli 2016 unter <http://www.webcitation.org/6ipSKD8Bi>. - ↑ Viel beeindruckendere Formulare habe ich persönlich allerdings in den USA erlebt – trotz oder womöglich sogar wegen des „Paperwork Reduction Act“.
- ↑ Und m. E. nur allzu häufig als die Lösung „verkaufenden“.
- ↑ Das bekannte „Business Model Canvas“ beispielsweise wird in Alexander Osterwalders Buch „Business Model Generation“ zwar wohl nicht erstmalig eingeführt, fand aber dadurch seinen Weg in die breite Masse. Vgl. Alexander Osterwalder, Yves Pigneur: Business Model Generation: A Handbook For Visionaries, Game Changers, And Challengers. Wiley, Hoboken (New Jersey) 2010.
- ↑ Die „Tütensuppe“ ist gerade an dieser Stelle allerdings nicht wirklich neu: Ich kannte schon vor Einsetzen der „Canvas-Mode“ den einen oder anderen „Business Consultant“, der den überwiegenden Teil des Beratungsprozesses mit dem gemeinsamen Ausfüllen von vorgefertigten Formularen bestritt. Über-Strukturierung erzeugt vermutlich ein Gefühl von Sicherheit – und benötigt vor allem auch viel (fakturable) Zeit.
Sehr gut formulierte Gedanken. Ich habe zwar danach gesucht und konnte mir in deinen 3 Artikeln meine Meinung „bestätigen“ lassen, was ja auch wieder ein Denkfehler ist.
Aber: Geistige Flexibilität UND Meta-Recherche (a.k.a das Buch gelesen zu haben) hilft.
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Hallo Tim,
oh ja, das Canvas läuft mir auch häufig über den Weg. Es ist wirklich zum Verrüktwerden: Gerade weil es so einfach aussieht, wird es unterschätzt und nicht richtig gelernt. „Tütensuppen-denken“ bringt das wirklich wunderbar auf den Punkt 🙂
Viele Grüße + schönes Wochenende
Sven