Es gibt kaum noch ein Unternehmen, das sich nicht (neben vielen anderen wohlklingenden Worten) „Transparenz“ auf die Liste der per Unternehmensleitbild quasi verordneten Kulturbestandteile gesetzt hat. Wie weit es dann tatsächlich damit her ist, ob dieser Wert unter allen Umständen sinnvoll ist1 und ob – ein Gedanke, der mich des Öfteren beschleicht – die neuerdings mancherorts zum Dogma erhobene Transparenz nicht eher ein Ablehnen von Verantwortung und womöglich eine unfaire Überforderung darstellt, soll (leider) nicht Gegenstand dieses Artikels sein. Hier geht es um das Visuelle – aber auch das wechselwirkt mit der erwähnten Transparenz:
Schon immer manifestierten sich Wertvorstellungen in der Architektur – auch (wenn nicht gar gerade) in der Bürogestaltung. Eine wesentliche Aufgabe von Innenarchitekten, so scheint es mir oft, ist es, die zu Stein gewordenen Werte der vergangenen Jahrzehnte durch geeignete Bürogestaltung mühsam an das jeweilige veränderte Wertesystem anzupassen. Entwicklungen der Arbeitsorganisation und ‑werkzeuge scheinen mir dabei tatsächlich einen geringeren Einfluss auf das „Office Design“ zu haben als das veränderte Unternehmensleitbild und das damit verbundene jeweilige Menschenbild.
Doch zurück zur Transparenz – und vor allem zum Visuellen: Auch Büros werden zunehmend transparenter – die Türen, die Wände und womöglich (mangels Wänden) der ganze (Groß‑)Raum. Und so findet man sich nur allzu häufig in einem „Goldfischglas“ wieder, bestreitet ein Meeting unter den interessierten Augen der am gläsernen Besprechungsraum verbeidefilierenden Kollegen, Kunden oder gar gänzlich Fremden. Das gesprochene Wort mag dabei vertraulich bleiben, Geschriebenes, Gezeichnetes oder Projiziertes hingegen kaum – und auch der Gruppenprozess unterliegt der Beobachtung durch Dritte. Glas schützt vielleicht vor Zuhörern, nicht aber vor Zuschauern. Nicht nur, dass auf diese Weise womöglich eigentlich geheime oder zumindest diskret zu behandelnde Informationen über das Unternehmen, seine Kunden oder seine Mitarbeiter abfließen könnten, der „transparente“ Meeting-Raum birgt unabhängig vom eigentlichen Inhalt Gefahren: Im Wortsinne „im Vorbeigehen“ erhaschte Informationsfetzen – einzelne Stichworte, PowerPoint-Folien oder (unfertige) Skizzen – dringen ihrem Kontext entrissen und unvollständig nach draußen. Unfertiges oder Vorläufiges wird vom „Passanten“ womöglich als fertig und endgültig wahrgenommen, noch Ungeprüftes als faktisch. Ohne Kontext nicht bewertbare Informationen werden zu (wertendem) Flurfunk verarbeitet. Mit „Transparenz“ hat dieses spärlich tröpfelnde, gänzlich ungesteuerte Informationsrinnsal nichts zu tun.
Gerade beim Visualisieren aus dem Stegreif werden Gedanken oft erst entwickelt – aber ist die ephemere Skizze erst zum Gerücht geworden, bekommt sie automatisch zumindest in ihrer Wirkung etwas Endgültiges. Hat man dieses Phänomen erst einmal erlebt, hemmt es einen – im Zweifel wird nicht mehr visualisiert, was nicht schon fertig ist und nach außen dringen sollte. Ebenso, wie man seinen Mund hüten würde, könnte jeder Außenstehende zuhören, beginnt man, seinen Stift zu hüten. Gläserne Büros, gläserne Meeting-Räume sind nicht besonders visualisierungs-freundlich.
Ebenso hemmt es den Gruppenprozess, „auf dem Präsentierteller“ zu sitzen – sich (womöglich gar visuell am Flipchart) in der Gruppe einzubringen, ist für viele Menschen schon herausfordernd; das auch noch unter möglicher Beobachtung durch Dritte zu tun, erschwert es zusätzlich. Gruppen arbeiten meiner Erfahrung nach in geschützten Räumen am besten.
Auch beim Präsentieren ist Vorsicht geboten: PowerPoint-Folien haben einen (meist viel zu) hohen Informationsgehalt; ein kurzer Blick im Vorbeigehen reicht wenn nicht schon für einen gefährlichen Informationsabfluss dann zumindest für eine umfangreiche Fehlinterpretation des nur bruchstückhaft Erfassten. Gerade in (von den Mitarbeitern meist argwöhnisch beobachteten) Beratungsprozessen stellen die PowerPoint-Folien oftmals die komplette Ergebnisdokumentation dar, einzelne Folien sind quasi komplette Unterkapitel des Abschlussberichts – und was sonst streng unter Verschluss gehalten würde, wird auf einmal im „Goldfischglas“ für jeden sichtbar an die Wand geworfen. Auch die meisten Präsentationen sollten nicht im gläsernen Besprechungsraum gehalten werden.
Mir fallen einfach keine Vorteile eines gläsernen Meeting-Raums ein – und die Gefahren erscheinen mir eher groß. Dennoch müssen wir uns mit der aktuellen „Büro-Mode“ arrangieren. Ist der Raum nicht voll verglast, sollte man darauf achten, dass Leinwand, Flipchart und/oder Whiteboard nicht von außen einsehbar sind. In vollverglasten Räumen kann man zumindest versuchen, sie nicht in Blickrichtung des Haupt-Menschenstroms im Flur aufzustellen. Ansonsten bleibt nur, darauf zu warten, dass sich die „Mode“ ändert – und die Innenarchitekten die dann neuen Altlasten der heute aktuellen Mode mit Milchglasfolie überkleben.
Mehr zu Situation und Raum beim Visualisieren finden Sie übrigens im Buch bzw. hier im Blog im Buchauszug „Bühne und Publikum“.
Footnotes:
- ↑ Und ob vielerorts die jeweils angeführten „Werte“ nicht schon längst der wirkungslosen Beliebigkeit anheimgefallen sind.
Dem kann ich nur zustimmen. Hinzu kommt noch der Neid der nicht Eingeladenen oder der (falsche) Stolz derer, die für alle sichtbar mit den „Großen“ zusammen sitzen.
Eine unausgesprochene These des Artikels möchte ich aber doch in Frage stellen: Wird denn in jedem Meeting wirklich Wichtiges und Relevantes besprochen, das die Qualität für den Flurfunk hat – oder sind zu viele Meetings nicht eher gehaltlos?
Im Falle des „Goldfischglases“ ist ja gar so wahnsinnig wichtig, ob wirklich Relevantes besprochen wurde – wichtig ist vor allem, was die „Zuschauer“ denken. Der „Flurfunk“ dürfte vermutlich fast immer davon ausgehen, dass die Inhalte des Beobachteten relevant sind ;-).