Immer auf der Suche nach erhellenden Metaphern und Modellen (vgl. hier), fiel mir kürzlich beim Zahnarzt auf, in was für einem wunderschönen kanban-artigen Wartesystem ich dort eigentlich sitze – und wieviel man anhand dieses Systems ganz allgemein über WIP-Limits und den Arbeitsfluss lernen kann:
- Die nicht begonnene Arbeit meiner langjährigen Zahnärztin sitzt im Wartezimmer – wenn wir so wollen in der „To Do“ Spalte eines Kanban-Boards.
- Die eigentliche Arbeit beginnt, indem der Patient in eines der drei Behandlungszimmer (quasi die „in Bearbeitung“-Spalte des Kanban-Systems) geführt (gewissermaßen ein „Zusagepunkt“) und durch eine Zahnarzthelferin1 auf die Behandlung vorbereitet wird („Rüstzeit“).
- Meine Zahnärztin wandert zwischen den drei Behandlungszimmern und nimmt jeweils einen oder mehrere Behandlungsschritte vor. Bedingt ein Arbeitsschritt eine längere Wartezeit (bspw. das Warten auf die Wirkung einer Betäubung, letztlich ein „Blocker“), wechselt sie in ein anderes Zimmer, in dem die jeweilige Arbeit idealerweise direkt fortgesetzt werden kann (nicht „blockiert“ ist).
Was nun hat das mit WIP(-Limits) und Flow zu tun – und was kann man an diesem Modell lernen?
- Das ganze System aus Helferinnen und Behandlungszimmern ist darauf ausgerichtet, den Engpass (die eine Zahnärztin) optimal auszulasten – über Engpassorientierung und die Theory of Constraints (TOC) muss man Menschen, die Arztpraxen organisieren, offenkundig nichts mehr erzählen.
- Das System hat in diesem Fall ein WIP-Limit von drei [Behandlungszimmern]. Bei einem WIP-Limit von eins (nur einem Behandlungszimmer) würde meine Zahnärztin regelmäßig mehr oder minder untätig auf das Wirken von Betäubungen, das Aushärten von Abdrücken o. ä. warten müssen – ein höheres WIP-Limit (mehrere Behandlungszimmer) ermöglicht ihr, trotz dieser „Blocker“ fast kontinuierlich in Arbeit zu bleiben.
- Ein viel höheres WIP-Limit (z. B. 20 Behandlungszimmer) würde allerdings dazu führen, dass die Wartezeiten für den Patienten im Behandlungszimmer (weit weg von den Hochglanz-Magazinen des Wartezimmers!) unangenehm groß werden würden – jeder, der schon einmal in einer im Verhältnis zu den meist sehr vielen Behandlungszimmern bzw. ‑plätzen personell unterbesetzten Notaufnahme gewartet hat, kann ein Lied davon singen. Die Warte- und damit auch die Durchlaufzeit in Behandlung steigt mit der Anzahl der Zimmer, sobald so viele Zimmer existieren, dass nicht nur notwendige Wartezeiten durch „Blocker“ (das Warten auf die Betäubung o. ä.) anfallen, sondern auch auf die sich zwischen den Zimmern aufteilende Ärztin gewartet werden muss. Das Gefühl, „es ginge schnell“, weil man nur kurz im Wartezimmer war und schnell in ein Behandlungszimmer gebeten wurde, weicht womöglich schnell der Langeweile im einsamen Behandlungszimmer.
- Reduziere ich die Anzahl der Zimmer (senke ich das WIP-Limit), sinkt die Durchlaufzeit der Behandlung – aber nur, sofern es nach wie vor nicht notwendige Wartezeit (also „reines“ Warten auf die Zahnärztin) gibt. Reduziere ich die Anzahl der Zimmer, obwohl es nur noch notwendige Wartezeiten („Blocker“) gibt, muss die Zahnärztin mit dem Patienten zusammen warten – die Auslastung sinkt.
- Das optimale WIP-Limit – die optimale Anzahl von Behandlungszimmern – liegt vor, wenn auf der einen Seite so wenig Behandlungszimmer vorhanden sind, dass ein Patient (Arbeit), der „in Bearbeitung“ ist, nur aus gutem Grund (also aufgrund von „Blockern“) wartet und auf der anderen Seite in ausreichend vielen Behandlungszimmern Patienten auf die Zahnärztin warten, so dass ihr die Arbeit nicht ausgeht. Ist der Engpass – die Zahnärztin – optimal ausgelastet, sinkt damit auch die Durchlaufzeit durch das Gesamtsystem inklusive Wartezimmer.
Das alles gilt natürlich nur im Mittel und über längere Zeit – und ein gleichmäßiger „Flow“ will sich abhängig von Komplikationen bei der Behandlung, wenig kooperativen Mit-Patienten und anderen Quellen von Varianz womöglich nicht immer einstellen. Glücklicherweise hat man beim Arzt aber meist erstaunlich viel Zeit, das Wartesystem in Ruhe zu beobachten – und dabei anhand dieses etwas unüblichen Beispiels ganz allgemein über WIP(-Limits) und den optimalen Arbeitsfluss zu sinnieren.
Footnotes:
- ↑ Es sind in diesem Fall tatsächlich ausschließlich Frauen.
Hallo,
schönes Beispiel. Passt sehr gut!. Fehlt nur noch die Spalte mit dem QS 😉
Da fällt mir doch gleich eine „alte“ Mindmap ein http://kleinhirn.eu/2016/11/23/top-8-mythos-agile/
Gruß aus Langenhagen
Thomas Wenzlaff
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