Auch, wenn mir der Begriff ganz und gar nicht gefällt1: Die Existenz der Rolle des Scrum Masters ist sicherlich einer der wichtigeren Gründe für den Erfolg und die Verbreitung des Rahmenwerkes „Scrum“.
Kanban kennt eine solche Rolle nicht – eine vorgeschriebene neue Rolle würde womöglich gar den Changemanagement-Prinzipien von Kanban widersprechen2. Die Verantwortung für den Prozess und dessen evolutionäre Weiterentwicklung verteilt Kanban letztlich auf die Schultern aller Beteiligten3. Dieser Anspruch an die Selbstorganisation erscheint mir als ein sehr hehrer – insbesondere in Teams und Organisationen, die gerade erst erste Erfahrungen sammeln:
- Sind alle verantwortlich, ist am Ende oft niemand verantwortlich. Zudem ist nur selten sichergestellt, dass wirklich alle Beteiligten fachlich-methodisch dazu in der Lage sind, Verantwortung für den Prozess und dessen Weiterentwicklung zu übernehmen – und meist ist gar nicht klar, dass dafür ein Mandat vergeben wurde.
- Übernehmen die Führungskräfte (meist aus Gewohnheit) die Verantwortung, legen die Übrigen sie i. d. R. ab. Zudem wirken Führungskräfte, die an diesem Punkt die Verantwortung an sich reißen, dem Changemanagement-Prinzip „Fördere Führung auf allen Ebenen der Organisation“4 womöglich geradezu entgegen. Im Falle interdisziplinärer Arbeit wird zudem häufig mindestens seitlich hierarchieübergreifend gearbeitet; in diesem Fall ist nicht mehr klar, welche Führungskraft verantwortlich ist – es ist also häufig wieder niemand wirklich verantwortlich.
Die Gefahr, dass die Einführung von Kanban unter diesen Umständen im Sande verläuft oder zumindest die Weiterentwicklung des Systems ins Stocken gerät, erscheint mir sehr groß.
Eine der großen Stärken der Rolle des Scrum Masters ist ihr klarer Auftrag und das damit verbundene vergleichsweise klare Mandat, sich zumindest zu kümmern und einzumischen und über den Prozess zu wachen. Gäbe es etwas Vergleichbares für Kanban, gäbe es so etwas wie einen „Kanban Master“ oder besser „Kanban Facilitator“5 – viele Versuche der Einführung von Kanban würden womöglich deutlich erfolgreicher und schneller verlaufen:
- Praktisch niemand hat das Bedürfnis nach noch mehr Meetings – es gilt also vor allem, die richtigen Meetings mit den richtigen Beteiligten effizient und effektiv durchzuführen. Ein „Kanban Facilitator“ könnte sich um die Kanban-Kadenzen kümmern, sicherstellen, dass die vereinbarten Meetings stattfinden und den richtigen Inhalt haben, sie womöglich gar zumindest anfänglich moderieren.
- Prozessregeln sind schnell gemacht – und ebenso schnell vergessen. Eine mahnende Stimme, die regelmäßig an die selbst gegebenen Regeln erinnert und im Falle der Dysfunktionalität einer Regel Veränderung anregt, könnte vielen Teams vor allem in einem frühen Stadium der Einführung helfen.
- Ein Scrum Master hilft u. a. dabei, Impediments aus dem Weg zu räumen – sei es durch Organisieren, durch hilfreich-unterstützendes Nachfragen oder beispielsweise durch eine hierarchische Eskalation außerhalb des Teams. Vor allem aber behält er oder sie vorhandene Impediments im Auge. Den Blockern im Kanban-System systematisch eine vergleichbare Aufmerksamkeit zu widmen, könnte eine Aufgabe eines „Kanban Facilitators“ sein. Gerade in Organisationen, in denen nur in einigen wenigen Bereichen Kanban eingesetzt wird, könnte eine solche Rolle an den Schnitt- oder besser Bruchstellen innerhalb der Organisation als „Übersetzer“ dienen. Hier zeigt sich übrigens deutlich die Abgrenzung zum [Agile] Coach: Das kontinuierliche operative Hineinwirken in die Organisation ist m. E. definitiv keine Aufgabe für einen (womöglich externen) Coach.
- Die evolutionäre Weiterentwicklung des Kanban-Systems ist inhärenter Bestandteil von Kanban. Ein „Kanban Facilitator“ könnte diese Entwicklung methodisch und moderierend unterstützen und beispielsweise die notwendigen Messungen und Daten erzeugen und allen zur Verfügung stellen. Zudem könnte er oder sie „Elefanten im Raum“ ansprechen – z. B. dysfunktionale oder schlicht niemals eingehaltene Prozessregeln, mangelnde Meeting-Disziplin u. v. m.
In vielen Fällen braucht es also vermutlich mindestens anfänglich der Rolle eines „Kanban Facilitators“ (um „Master“ zu vermeiden). Wie aber sollte eine solche Rolle besetzt werden? Ein externer „Agile Coach“6 erscheint mir wenig geeignet – es sei denn, man möchte unbedingt sehr viel Geld ausgeben: Ein „Kanban-Facilitator“ sollte m. E. kontinuierlich präsent sein, womöglich (anders als meist ein Scrum Master) gar teilweise im Team mitarbeiten. Die fachlich-methodische Kompetenz intern aufzubauen und die Rolle samt klarem Mandat intern zu vergeben, erscheint mir dementsprechend der bessere Weg. Und auch, wenn ich ansonsten wirklich kein Freund von Zertifizierungen bin: Eine Zertifizierung samt Titel könnte es in vielen Organisationen deutlich vereinfachen, diese Rolle zu etablieren und organisationsübergreifend Akzeptanz dafür zu schaffen.
Ihre größte Wirkung würde die Rolle des „Kanban Facilitators“ sicherlich in den frühen Stadien der Kanban-Einführung entfalten. Sie a priori auf Zeit anzulegen, erscheint mir dennoch als eine sehr verfrühte Entscheidung – je nach Organisation ist m. E. durchaus denkbar, dass es dieser Rolle insbesondere an den Schnittstellen kontinuierlich bedarf. Dennoch: Das Ziel zu haben, sich überflüssig zu machen, stünde einem „Kanban Facilitator“ sicher gut an – und die Rolle im Rahmen der evolutionären Weiterentwicklung abzuschaffen, falls es ihrer nicht mehr bedarf, entspricht m. E. den Prinzipien und Praktiken von Kanban.
Nur, weil das offenbar nicht ausreichend klar wird – Update 20.04.2021: Ich bin übrigens überhaupt kein Fan von nicht wirklich durchdachten Modifikationen von Methoden (vgl. hier), halte andererseits aber auch „Methoden-Dogmatismus“ für wenig hilfreich (vgl. hier) – und die hier diskutierte Rolle ist übrigens auch gar nicht so neu:
- „Emerging Roles in Kanban“ <https://djaa.com/emerging-roles-in-kanban/> (20.04.2021)
- „When do we need a Service Delivery Manager?“ <https://djaa.com/when-do-we-need-sdm-srm-roles-with-kanban/> (20.04.2021)
Footnotes:
- ↑ Einmal ganz abgesehen von der sprachhygienischen Diskussion über den Begriff „Master“ als sprachliches Artefakt aus Zeiten der Sklaverei: „Master“ hat einfach zu viele Konnotationen (sowohl im Englischen als durch „false friends“ im Deutschen), die der Rolle des Scrum Masters als „servant leader“ nicht nur nicht gerecht werden, sondern sie womöglich gar konterkarieren. Spätestens, wenn man versucht, die Rollenbezeichnung ins Weibliche zu übertragen („Scrum Mistress“), wird klar, wie ungünstig diese Konnotationen sind.
- ↑ „Beginne mit dem, was du gerade tust […] respektiere vorhandene Rollen, Verantwortlichkeiten und Job-Titel“, vgl. Anderson, David J. & Carmichael, Andy: Die Essenz von Kanban kompakt. Heidelberg: dpunkt.verlag GmbH 2018. S. 11.
- ↑ „Fördere Führung auf allen Ebenen der Organisation – angefangen
beim einzelnen Mitarbeiter bis zur Geschäftsleitung“, ebenda. - ↑ Ebenda.
- ↑ An dieser Stelle gilt es m. E. nicht nur, die problematische Konnotation des Wortes „Master“ zu meiden, sondern auch den Eindruck des bloßen Kopierens zu vermeiden. Hilfreich wäre es aber m. E. tatsächlich, einen ähnlich griffigen und möglichst organisationsübergreifend relativ einheitlichen Begriff wie „Scrum Master“ zu etablieren. Es existieren unzählige Vorschläge zur Benennung dieser Rolle (z. B. „Flow Master“, „Flow Manager“ oder „Service Delivery Manager“) vgl. bspw. <https://www.kanbwana.de/2019/09/18/kanban-master-ja-nein-vielleicht/> (04.02.2021) – mir persönlich gefällt „Kanban Facilitator“ am besten.
- ↑ Ein m. E. bis zur Inhaltslosigkeit überstrapazierter Begriff.