Das Wertepaar des Agilen Manifests, das mir am häufigsten spontan zitiert zu werden scheint, ist „responding to change over following a plan“1. Nun mag das daran liegen, dass dieser Ansatz mehr als alt ist, sich die Idee des Reagierens auf Veränderung natürlich schon in viel älteren Schriften findet – sei es beispielsweise bei Sunzi (Sun Tzu) vor über 2.500 Jahren oder z. B. bei Moltke vor etwas mehr als 100 Jahren2.
"Therefore, just as water retains no constant shape, so in warfare there are no constant conditions. He who can modify his tactics in relation to his opponent and thereby succeed in winning, may be called a heaven-born captain."
Sunzi (Sun Tzu)3
„Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus“
Helmuth von Moltke4
Kurz: die Idee der Anpassung an veränderte Gegebenheiten ist natürlich nicht erst mit dem Agilen Manifest geboren5. Was aber meiner Erfahrung nach neu und inzwischen geradezu üblich ist, ist, ein völlig chaotisches und/oder ungeplantes Vorgehen durch Anführen eben dieses Wertepaares zu rechtfertigen und damit geradezu als „agil“ zu adeln.
Mit Sunzi oder Moltke ist mir das bisher übrigens noch nicht passiert.
Suchte man früher für eine spontane Planänderung noch Rechtfertigungen außerhalb des eigenen Systems zu finden (was – sofern nicht an den Haaren herbeigezogen – ja tatsächlich „responding to change“ wäre), scheint mir inzwischen oftmals der bloße Verweis auf „Agilität“ zu reichen, um selbst den kompletten Kontrollverlust noch als normal zu verkaufen.
Zu einem Paar gehören zwei
Die Wertepaare des Agilen Manifests sind – es kann m. E. nicht oft genug gesagt werden – keine schwarz-weißen Dualismen, ja nicht einmal Gegenteile; die Aussage ist keinesfalls, man solle nicht planen, sondern stattdessen nur reaktiv agieren. Das Axiom, das sich in diesem Wertepaar ausdrückt, ist lediglich, dass das „Reagieren auf Veränderung“ wichtiger sei als das „Befolgen eines Plans“6.
Zu einem Paar gehören immer zwei: Ohne Plan keine Planänderung, kein „Reagieren auf Veränderung“ – denn was will ich sonst reaktiv-dynamisch („agil“) anpassen, wenn nicht den Plan? Das Wertepaar als Apell zu interpretieren, weniger detailliert zu planen bzw. zumindest den Detailliertheitsgrad mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum (immerhin einigermaßen bekannten) „Jetzt“ zu reduzieren (vgl. hier und hier), ist pragmatisch sicher richtig. Das steht so direkt allerdings weder im Agilen Manifest noch in den als dahinterstehend angeführten Prinzipien – das ist nur eine (m. E. sinnvolle) Interpretation.
„Change“ muss auch „Change“ sein
Muss ich den Plan anpassen, weil sich eine Veränderung ergeben hat – sei es, dass eine Annahme nicht mehr zutrifft oder dass man zusätzliche Informationen erhalten bzw. gewonnen hat7, so ist das sicherlich nicht ehrrührig – genau das ist mit „responding to change over following a plan“ gemeint. Ähnliches gilt dafür, den Plan fortschreiben zu müssen, weil man „auf Sicht navigiert“ und nur so weit geplant hat, wie es einigermaßen sicher möglich war – je höher die Veränderungsrate, je größer die Unsicherheit, desto sinnvoller ist naturgemäß ein iteratives Vorgehen (vgl. bspw. hier und hier).
Hat man aber gar nicht, extrem schlecht oder unrealistisch weit in die naturgemäß unbekannte Zukunft geplant, möge man bitte nicht vermeintlich rechtfertigend auf das Agile Manifest verweisen. In allen drei Fällen gilt es natürlich, zu reagieren und den Plan anzupassen – das ist dann aber nicht Ergebnis von „Agilität“, nicht „reagieren auf Veränderung“, sondern schlichtweg notwendiges Ausbügeln eines Fehlers. Ebenso ist es übrigens vermutlich nicht „reagieren auf Veränderung“, wenn Sie die auslösende Veränderung nicht konkret benennen können.
„Das ist nichts Neues, so machen wir es schon immer“ …
… ist im Zusammenhang mit der Einführung von agilen bzw. auch nur iterativen Vorgehensweisen ein erstaunlich häufig gehörter Satz. Natürlich haben die wenigsten Organisationen die letzten Jahrzehnte damit verbracht, sklavisch eigentlich schon längst obsoleten Plänen zu folgen – oder sind schon lange diesem Vorgehen zum Opfer gefallen. Fällt aber obiger Satz mehr oder minder wörtlich, so läuft es meiner Erfahrung nach meist darauf hinaus, das bisherige zumeist überdurchschnittlich chaotische Vorgehen nicht nur als „agil = modern“ zu adeln, sondern vor allem möglichst wenig oder gar nichts daran zu ändern – die Königsdisziplin des Methoden-Frankensteinings (vgl. hier) ist erreicht: Es werden einfach nur die Bezeichnungen geändert, alles andere bleibt beim Alten.
Hand aufs Herz: Passe ich mich wirklich gerade an Veränderungen an oder mache ich nur vergessene Hausaufgaben? Habe ich wirklich so valide und so weit wie (sinnvoll) möglich geplant? Ist das nicht der Fall: Nennen Sie es bitte nicht „responding to change“ oder „agil“ – auch (oder erst recht) nicht scherzhaft.
Footnotes:
- ↑ Vgl. <https://agilemanifesto.org> (26.09.2019); die deutschsprachige Version spricht (m. E. etwas überspitzter) von „Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans“, vgl. <https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html> (26.09.2019).
- ↑ Es ist übrigens keinesfalls so, dass ich einen Hang zum Militärischen habe. Die Etymologie von „Strategie“ lässt sich aber nun einmal klar auf das griechische „στρατηγός“ („stratēgós“, „Feldherrr“) zurückführen – und genau in diesem Kontext stehen auch fast alle älteren Schriften dazu.
- ↑ Vgl. Sun Tzŭ, Lionel Giles: On the art of war: the oldest military treatise in the world. London: Luzac & Co. 1910. Frei verfügbar unter <https://en.wikisource.org/wiki/The_Art_of_War_(Sun)/Section_VI> (03.10.2019). Hier englisch zitiert, die deutschen Übersetzungen erscheinen mir noch stärker von den lyrischen Vorstellungen des jeweiligen Übersetzers geprägt.
- ↑ Vgl. „Über Strategie“ (1871). In: Kriegsgeschichtliche Einzelschriften, H.13 (1890), zit. nach: Militärische Werke, Band 2, Teil 2. Mittler & Sohn Berlin 1900. S. 291.
- ↑ Ein weiteres sehr schönes Beispiel dafür, warum mir vieles von dem, was man heutzutage „agil“ nennt, hochgradig eklektizistisch erscheint.
- ↑ Das gilt analog übrigens auch für die übrigen drei Wertepaare; so ist beispielsweise keinesfalls davon die Rede, man solle nicht dokumentieren – auch, wenn das eine sehr bequeme und deswegen erstaunlich verbreitete Interpretation ist. Und „funktionierende Software“ ist übrigens auch nicht das Gegenteil von „umfassende Dokumentation“.
- ↑ Das kann bspw. auch das Ergebnis eines (womöglich geplanten) Experiments sein.