Kamera an oder aus?

Fast immer, wenn ich mit Men­schen über Online-Mee­tings rede und die Spra­che auf mein ja schon ein wenig in die Jah­re gekom­me­nes Buch zu die­sem The­ma kommt, fällt mir auf: Seit Beginn des pan­de­mie­be­ding­ten „Home­of­fice-Booms“ hat sich eini­ges, was ich damals für rich­tig und wich­tig hielt, durch eige­ne und frem­de Erfah­rung, eine Wei­ter­ent­wick­lung der sozia­len Nor­men und nicht zuletzt auch durch tech­ni­sche Inno­va­tio­nen stark ver­än­dert. So wür­de ich bei­spiels­wei­se nicht mehr grund­sätz­lich in jeder Mee­ting-Situa­ti­on dazu raten, das Mikro­fon zu muten, wenn man sel­ber nicht spricht – eine Regel, die ich frü­her gera­de­zu dog­ma­tisch ver­tre­ten habe. Zwi­schen­zeit­li­che Inno­va­tio­nen (u. a. ver­bes­ser­te Mikro­fo­ne, bes­se­re Fil­ter-Mecha­nis­men und bes­se­re Echo-Unter­drü­ckung) und gesam­mel­te Erfah­rung (in klei­ne­ren Grup­pen ist der Dis­kurs mit „offe­nen“ Mikro­fo­nen leb­haf­ter) haben mich eines Bes­se­ren belehrt​1 und ich beur­tei­le die Fra­ge „Mikro­fon an oder aus?“ inzwi­schen deut­lich situativer.

Ähn­lich ver­hält es sich auch mit der Kame­ra. War ich anfäng­lich ein glü­hen­der Ver­fech­ter der The­se, die Kame­ra schaf­fe sozi­al-kom­mu­ni­ka­ti­ve Nähe und ver­bes­se­re die Kom­mu­ni­ka­ti­on, wür­de ich das inzwi­schen doch deut­lich situa­tiv-dif­fe­ren­zier­ter beur­tei­len und durch­aus auch Nach­tei­le in der visu­el­len Kom­po­nen­te von Video­kon­fe­ren­zen erken­nen – auf­grund eige­ner Erfah­rung und Beob­ach­tung, aber nicht zuletzt auch auf­grund zwi­schen­zeit­li­cher arbeits- und kom­mu­ni­ka­ti­ons­psy­cho­lo­gi­scher Untersuchungen.

Die ange­schal­te­te Kame­ra trägt nach ver­schie­de­nen Stu­di­en maß­geb­lich zur soge­nann­ten „Zoom-Fati­gue“ bei.2 Bei genaue­rer Betrach­tung erschei­nen mir die­ses For­schungs­er­geb­nis und sei­ne Inter­pre­ta­ti­on sehr nahe­lie­gend, denn das Kame­ra­bild im Online-Mee­ting unter­schei­det sich qua­li­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv von der visu­el­len Wahr­neh­mung in Präsenz-Meetings:

  • Man sieht sich selbst mehr oder min­der kon­ti­nu­ier­lich, ist gegen­über einer Bespre­chungs­si­tua­ti­on in Prä­senz extrem ver­mehrt gera­de­zu gezwun­gen oder zumin­dest dar­an erin­nert, das rein opti­sche Außen­bild einer Prü­fung bzw. Opti­mie­rung zu unter­zie­hen. Inzwi­schen bie­ten vie­le Soft­ware-Pro­duk­te zwar die Mög­lich­keit, das eige­ne Video­bild zu deak­ti­vie­ren – aber wer tut das schon, kann man doch so über­prü­fen, „was für ein Bild man gera­de abgibt“? Den Teil­neh­mern wird also kon­ti­nu­ier­lich der Spie­gel vor­ge­hal­ten. Man stel­le sich ein­mal einen phy­si­schen Mee­ting-Raum vor, des­sen Wän­de kom­plett ver­spie­gelt wären – wer fän­de das nicht irritierend?
  • Im Gegen­satz zu einem Prä­senz-Mee­ting kann man nicht erken­nen, wer einen gera­de anschaut oder wer nicht. Sit­zend am Bespre­chungs­tisch nimmt man dies meist sehr genau bewusst oder unbe­wusst wahr und passt sein Ver­hal­ten dar­an an, im Fal­le einer Video­kon­fe­renz hin­ge­gen muss man jeder­zeit davon aus­ge­hen, ange­schaut und beob­ach­tet zu wer­den – dass dies eine Mehr­be­las­tung ist, erscheint mir naheliegend.
  • Ins­ge­samt stei­gert das Video­bild den Auf­wand, den man neben der rein inhalt­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on für die Selbst­re­prä­sen­ta­ti­on zu betrei­ben geneigt oder bes­ser genö­tigt ist. Ob die­sem Auf­wand ein Bei­trag zur inhalt­li­chen Arbeit ent­ge­gen­steht, erscheint mir sehr zwei­fel­haft; womög­lich stei­gert das eige­ne wie auch das Video­bild der ande­ren Teil­neh­mer ledig­lich die [extra­neous] cogni­ti­ve load.
  • Weni­ger erforscht, aber eben­so nahe­lie­gend in Bezug auf das Erschöp­fungs­po­ten­zi­al erscheint mir zudem noch die Mobi­li­täts­ein­schrän­kung, die mit dem eige­nen Kame­ra­bild ein­her­geht: Tele­fo­nie­rend blei­be ich sel­ten am Schreib­tisch sit­zen, lau­fe meist auf und ab – will­kom­me­ne und gesund­heit­lich zwei­fels­oh­ne sinn­vol­le Bewe­gung im Arbeits­all­tag eines Büro-Men­schen, aber poten­zi­ell auch kogni­tiv wert­voll und kreativitätssteigernd​3. Ein Mee­ting ohne Kame­ra vom mobi­len End­ge­rät durch­zu­füh­ren und sich dabei zu bewe­gen (womög­lich gar in der Natur), kann je nach The­ma durch­aus sinn­voll sein. Sich womög­lich ganz­tä­tig kon­ti­nu­ier­lich an den Auf­nah­me­be­reich der Kame­ra zu bin­den, erscheint mir schon aus gesund­heit­li­chen Grün­den wenig sinnvoll.

So theo­re­tisch-kon­stru­iert die hier in den Fuß­no­ten erwähn­ten Stu­di­en auch erschei­nen: Jeder der gera­de erwähn­ten Aspek­te hat inzwi­schen Ein­gang gefun­den in die Hand­rei­chung „Zoom-Fati­gue“ der DGUV4, ist also kei­nes­falls mehr rei­ne Theo­rie aus dem wis­sen­schaft­li­chen Elfen­bein­turm, son­dern Gegen­stand hand­fest-prak­ti­scher Fra­gen des Arbeitsschutzes.

Ver­folgt man also ana­log zur Fra­ge „Mikro­fon an oder aus?“ einen situa­ti­ven Ansatz, stellt sich m. E. vor allem eine Fra­ge: Bringt das Kame­ra­bild in die­ser Situa­ti­on für das Errei­chen des Mee­ting-Ziels sozi­al-kom­mu­ni­ka­tiv mehr, als die dadurch ent­ste­hen­de Belas­tung kos­tet? Mei­ner per­sön­li­chen Erfah­rung nach ist die Ant­wort auf die­se Fra­ge oft­mals „ja“, sofern es sich um ein kur­zes, kom­pak­tes Mee­ting mit einer stark aus­ge­präg­ten psy­cho­so­zia­len Kom­po­nen­te han­delt – z. B. ein kur­zes täg­li­ches Team-Jour-Fixe​5 – und gegen „Wän­de“ aus aus­ge­schal­te­ten Kame­ras zu reden, ist ohne Zwei­fel in vie­len Situa­tio­nen auch eher unan­ge­nehm. Im Fal­le eines ganz­tä­gi­gen Arbeits­mee­tings oder einer ganz­tä­gi­gen Fort­bil­dung wird die Ant­wort – viel­leicht bis auf weni­ge spe­zi­fi­sche Pha­sen, bei­spiels­wei­se Begrü­ßung und Abschied – jedoch m. E. eher „nein“ lau­ten. Ganz sicher bin ich mir in einem Punkt: Eine dog­ma­ti­sche „Die Kame­ra ist immer an!“-Regel ist nicht sinn­voll. Das jewei­li­ge sozia­le Sys­tem nicht an der emer­gen­ten Ent­wick­lung eige­ner Nor­men zu hin­dern, erscheint mir – vor allem im Fal­le rela­tiv sta­bi­ler Grup­pen bzw. Teams – am sinnvollsten.

Foot­no­tes:

  1.  Wirk­lich immer ein Head­set zu ver­wen­den ist aller­dings für mich nach wie vor ein ceter­um censeo.
  2.  Vgl. bspw. <https://​hbr​.org/​2​0​2​1​/​1​0​/​r​e​s​e​a​r​c​h​-​c​a​m​e​r​a​s​-on-or-off> (04.07.2025) bzw. Shock­ley, K. M., Gabri­el, A. S., Robert­son, D., Rosen, C. C., Chaw­la, N., Gans­ter, M. L., & Eze­rins, M. E. (2021). The fati­guing effects of came­ra use in vir­tu­al mee­tings: A within-per­son field expe­ri­ment. Jour­nal of Appli­ed Psy­cho­lo­gy, 106(8), 1137 – 1155. sowie <https://​news​.stan​ford​.edu/​s​t​o​r​i​e​s​/​2​0​2​1​/​0​2​/​f​o​u​r​-​c​a​u​s​e​s​-​z​o​o​m​-​f​a​t​i​g​u​e​-solutions> (04.07.2025) bzw. Fau­ville, Geral­di­ne and Luo, Mufan and Quei­roz, Anna C. M. and Bai­len­son, Jere­my N. and Han­cock, Jeff, Zoom Exhaus­ti­on & Fati­gue Sca­le (Febru­ary 15, 2021). Ver­füg­bar unter SSRN: <https://​ssrn​.com/​a​b​s​t​r​a​ct=3786329> oder <http://​dx​.doi​.org/​1​0​.​2​1​3​9​/​s​s​rn.3786329>.
  3.  Vgl. <https://​news​.stan​ford​.edu/​s​t​o​r​i​e​s​/​2​0​1​4​/​0​4​/​w​a​l​k​i​n​g​-​v​s​-​s​i​t​t​ing-042414> (04.07.2025) bzw. Oppez­zo, M., & Schwartz, D. L. (2014). Give your ide­as some legs: The posi­ti­ve effect of wal­king on crea­ti­ve thin­king. Jour­nal of Expe­ri­men­tal Psy­cho­lo­gy: Lear­ning, Memo­ry, and Cogni­ti­on, 40(4), 1142 – 1152.
  4.  Vgl. <https://​publi​ka​tio​nen​.dguv​.de/​f​o​r​s​c​h​u​n​g​/​i​a​g​/​p​r​a​x​i​s​h​i​l​f​e​n​/​4​4​2​8​/​p​r​a​x​i​s​h​i​l​f​e​-​z​o​om-fatigue> (04.07.2035).
  5.  Neben­bei bemerkt: Ist man sich ganz sicher, dass das Kame­ra-Bild für eine spe­zi­fi­sche Inter­ak­ti­on extrem wich­tig ist, soll­te man sich m. E. auch fra­gen, ob ein Online-Mee­ting für die­se Inter­ak­ti­on wirk­lich die rich­ti­ge Metho­de ist, ob nicht viel­leicht ein Tref­fen in Prä­senz dem The­ma ange­mes­se­ner wäre.

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