Eines der am häufigsten genutzten Features kommerzieller Videokonferenz-Software ist sicherlich der virtuelle Hintergrund: Alles, was sich nicht im Vordergrund des Videobildes bewegt, wird durch einen Algorithmus ausgeblendet und durch ein Bild ersetzt1. Die einzelnen Teilnehmer des Online-Meetings versetzen sich so scheinbar beispielsweise an den Strand, auf Raumstationen oder vor einen in der jeweiligen Corporate Identity „gebrandeten“ Hintergrund. Bisher habe ich mich mit virtuellen Hintergründen nur im Zusammenhang mit gemeinsamen Regeln bzw. Prinzipien für Online-Meetings beschäftigt – dabei gibt es darüber m. E. noch deutlich mehr zu sagen.
Virtuelle Hintergründe können je nach Szenario Nachteile, aber auch Vorteile haben und womöglich sogar neue Möglichkeiten eröffnen:
- Diskretion und professionelle Distanz – virtuelle Hintergründe vermeiden eine ungeplante Selbstkundgabe: Den Blick auf das Homeoffice im unaufgeräumten Hobbykeller oder den im Hintergrund spärlich bekleidet auf dem Weg in die Dusche vorbeihuschenden Partner2 durch einen virtuellen Hintergrund zu ersetzen, dient sicherlich dem Schutz der eigenen Privatsphäre und der professionellen Distanz, gebe ich doch so möglichst wenig Privates gegenüber meinen Gesprächspartnern preis – und nicht aufräumen zu müssen, ist sicherlich auch recht bequem.
- Professionalität: Als Team oder Unternehmen mit einem einheitlichen, entsprechend des eigenen Corporate Designs gestalteten Hintergrund aufzutreten, kann durchaus dem Eindruck von Professionalität dienen. Was aber z. B. bei einem Bankberater noch Vertrauen erzeugen mag, könnte beispielsweise bei einem Softwareentwickler womöglich unglaubhaft, ja geradezu „spießig“ wirken – und ob eine solche Einheitlichkeit stattdessen auf die anderen Teilnehmer eher langweilig wirkt, hängt sicherlich von Kontext und Publikum ab. Aus „professioneller Distanz“ kann so auch schnell eine übertriebene Distanziertheit und Ferne werden. Auch in diesem Kontext sei nebenbei bemerkt darauf hingewiesen, dass „LOGOrrhoe“ kein Branding ist.
- Nähe: Ebenso, wie ein virtueller Hintergrund Ferne schaffen kann, kann er auch Nähe schaffen: Gibt es keine Regeln dafür, wählen viele Teilnehmer bewusst einen spezifischen Hintergrund i. S. einer absichtlichen Selbstkundgabe – und sei es nur die Kundgabe „Ich nutze vorhandene Defaults, weil mir das nicht wichtig ist“. Diese gezielte Preisgabe kann sicherlich eine gewisse Nähe schaffen – je nachdem, wie sehr der jeweilige Teilnehmer das möchte. Bemühte man sich hier um eine (humoristische) Typisierung, es kämen bestimmt die interessantesten Charaktere dabei heraus – von der Urlauberin über den Hobbyisten, die Raumschiffkapitänin, den Innenarchitekten und die Komödiantin bis hin zum Corporate-Identity-Vasallen. Es erstaunt mich wirklich, dass ich dazu noch keinen Comicstrip finden konnte!
- Spaß: Die Möglichkeit, den Hintergrund frei zu wählen, ist naturgemäß ein gefundenes Fressen für die Spaßvögel im Meeting. Da die aber meist schon Gesichtsfilter für sich entdeckt haben und als sprechendes Gemüse am Online-Meeting teilnehmen3, steht der Hintergrund wieder für „seriösen Spaß“ zur Verfügung. „Motto-Tage“ („Lieblingsserie“, „Letzter Urlaub“, …) oder ähnliche Ideen können dabei die Runde nicht nur auflockern, sondern sogar ein wenig mehr gefühlte Nähe schaffen – und das, ohne einen unkontrollierten Blick in die privaten Räumlichkeiten erlauben zu müssen.
Die besten Gesprächsanlässe und das größte Gefühl „virtueller“ Nähe ergeben sich meiner Erfahrung nach jedoch gerade ohne virtuellen Hintergrund: Ein kurzer Small Talk über einen einfach nur physisch und dementsprechend „echt“ im Bild befindlichen Gegenstand – sei es etwas, was auf ein Hobby oder Interesse hindeutet, eine Kinderzeichnung oder nur die Wohnungseinrichtung – ist m. E. etwas ganz Natürliches und bringt eine viel menschlichere Komponente in die virtuelle Zusammenarbeit, als es jedweder mehr oder minder absichtsvoll gewählte virtuelle Hintergrund vermag. Eine vertrauensvolle Atmosphäre (zumeist in kleinerer Runde) vorausgesetzt, empfiehlt es sich also womöglich, gänzlich auf virtuelle Hintergründe zu verzichten.
Footnotes:
- ↑ Einige Produkte unterstützen alternativ das klassische „Chroma Keying“, das eines einfarbigen (meist grünen oder blauen) Hintergrundes bedarf. Chroma Keying muss nicht per Algorithmus „raten“, was Vorder- und was Hintergrund ist und liefert deswegen meist bessere Ergebnisse.
- ↑ Wobei mir gerade dafür die den Hintergrund (i. d. R. durch Machine Learning oder ein Convolutional Neural Network) „ratende“ Software vielleicht doch nicht zuverlässig genug erscheint.
- ↑ Vgl. bspw. <https://www.heise.de/tipps-tricks/Snap-Camera-Gesichtsfilter-bei-Skype-Zoom-Teams-und-Co-4705489.html> (14.02.2021).