Der Tageslicht- oder Overhead-Projektor – im Osten Deutschlands auch gern mit dem meiner Meinung nach viel schöneren Kunstwort Polylux (zusammengesetzt aus dem altgriechischem „poly“ („πολύς“) für „viel, mehrere“ und dem lateinischen „lux“ für „Licht“) bezeichnet – bedarf wohl in der Wahrnehmung der meisten Leser dieses Blogs eher eines Nekrologs als eines Lobliedes. In der Tat ist der Overhead-Projektor in kürzester Zeit fast vollständig ausgestorben – vor den Leinwänden der Besprechungsräume, Hörsäle und Klassenzimmer dieser Welt steht oder hängt heutzutage praktisch nur noch ein Beamer. Folienstifte sind zwar noch in fast jedem gut sortierten Schreibwarenladen erhältlich, Verwendung finden sie aber vermutlich eher in der Zweckentfremdung – z. B. zum Beschriften von DVDs.
In den Medienwissenschaften geht man gemeinhin von der Gültigkeit des Rieplschen Gesetzes aus, nach dem ein einmal nachhaltig eingeführtes Medium nicht von anderen (neueren) vollständig ersetzt wird. Das Fernsehen hat zum Beispiel das Radio nicht vollständig ersetzt. Es hat zwar das Radiohören fast vollständig aus den deutschen Wohnzimmern verdrängt, das Radio hat aber mit der Verbreitung von PKWs als (im Gegensatz zum Fernsehen) während der Fahrt auch durch den Fahrer gut konsumierbares Medium eine neue Bestimmung gefunden – und mit zunehmender Stau-Länge und ‑Häufigkeit sicherlich auch neue Hörer.
Was nun ist dem Polylux widerfahren – warum gilt dieses Gesetz (scheinbar oder anscheinend) nicht für den Overhead-Projektor? Aus meiner Sicht gibt es zwei Hauptgründe, warum der Overhead-Projektor (noch) keine neue Bestimmung gefunden hat: (1) Ein sehr großer Teil der jahrzehntelang auf Overhead-Projektoren aufgelegten Folien war vorbereitet oder gar als fertiger Foliensatz käuflich erworben. Diese Anwendungsform ist bei pragmatischer Betrachtung tatsächlich in keiner Weise zeitgemäß – eine vorbereitete Präsentation lässt sich mit einschlägiger Präsentationssoftware viel besser erstellen als mit Folienstiften und Fotokopierer – und das Ausdrucken einer am Computer erstellten Präsentation auf Folien ist ob der Allgegenwart von Beamern ein fast immer überflüssiger (und teurer) Medienbruch. Viel wichtiger erscheint aber (2), dass die Wahl des Präsentationsmediums in einem Vortrag immer eine starke Komponente der Selbstkundgabe des Referenten beinhaltet. Mit einem Polylux vor einem wie auch immer gearteten Auditorium zu stehen, würde aus Sicht des Publikums wie auch aus der vieler Vortragenden geradezu atavistisch wirken – ein bisschen, als versuchten Sie, Ihre Familie am Sonntagnachmittag vor dem Rundfunkempfänger im Wohnzimmer zu versammeln, um gemeinsam andächtig dem wöchentlichen Radiokonzert zu lauschen.
Ist es also womöglich nur die Angst, anachronistisch zu wirken, die uns die neue Bestimmung des Overhead-Projektors übersehen lässt und so das Rieplsche Gesetz Lügen straft? Wichtig erscheint mir noch ein weiterer Grund – die menschliche Neigung, das Offensichtliche zu übersehen: Die Anwendung des Overhead-Projektors als ein dynamisch während des Vortrags zum Zeichnen und Schreiben verwendetes Medium hat in vielen Fällen nach wie vor eine Berechtigung. Praktisch alles, was man am Whiteboard und vieles, was man am Flipchart tun kann, ist auch am Polylux möglich – nur für ein ungleich größeres Publikum! Der Overhead-Projektor projiziert an eine in größeren Räumen meist hoch hängende Leinwand und auch die Projektion an sich erreicht eine Größe, mit der erwiesenermaßen ganze Hörsäle erreicht werden können. Ich kann mich an endlos wirkende Mathematik-Vorlesungen erinnern, im Rahmen derer der Referent auf einer ebenfalls endlos wirkenden vor- und zurückrollbaren Folienrolle fast endlose Beweisketten schrieb – und im Falle eines (häufigen) Rechenfehlers oder einer (seltenen) Rückfrage aus dem Auditorium gnadenlos seine gesamte Beweiskette „zurückkurbelte“. Der jetzt vielleicht aufkommende Eindruck kafkaesker Ausweglosigkeit ist jedoch keine Eigenschaft des Präsentationsmediums, sondern vielmehr des Referenten.
Sie könnten also in jeder Situation, in der Sie gern ein Flipchart verwenden würden, das Auditorium aber aus Gründen der optischen Wahrnehmung zu groß erscheint, einen Overhead-Projektor verwenden – wäre da nicht die Angst davor, damit als Angehöriger eines primitiven Stammes aus von analoger Technik geprägten Zeiten zu gelten. Dazu kommt: In aller Regel werden Sie gar keinen funktionsfähigen Polylux vorfinden – und transportabel sind die meisten Geräte aufgrund ihres hohen Gewichts nur sehr bedingt. Beide Probleme lassen sich durch die Verwendung eines Visualizers – einer meist an einem Arm über einer Platte für die Dokumente1 montierten Kamera, deren Bild mit einem üblichen Beamer projiziert werden kann.
Praktisch erleben kann man dies z. B. in den Vorträgen von Werner Tikki Küstenmacher (http://www.kuestenmacher.com/): Küstenmachers Vorträge leben davon, dass nicht nur vorgefertigte Folien „aufgelegt“ (in diesem Fall: unter einen Visualizer gelegt) werden, sondern dass er Teile seiner karikaturistischen Visualisierung auch während des Vortrags tatsächlich zeichnet – schön zu sehen z. B. in einem Video eines Vortrags vor der Leserakademie der Berliner Morgenpost (Update 25.10.2015: Der Link ist leider nicht mehr verfügbar). Eine Integration des Visualisierungsprozesses in den Vortrag in dieser Weise wäre ohne einen Visualizer nicht möglich – zumindest nicht für die Menge Menschen, die Küstenmachers Vorträge anzieht.
Das Rieplsche Gesetz ist also keineswegs widerlegt – der Polylux lebt in dem Visualizer weiter. Sollten Sie die Spontaneität einer Stegreifvisualisierung vor einer Großgruppe benötigen: Nutzen Sie den Visualizer!
Footnotes:
- ↑ Oder auch dreidimensionale Gegenstände – hier geht der Visualizer über den Overhead-Projektor hinaus.