Womit könnte man ein Blog zum Thema „Visualisierung“ besser beginnen als mit einer historischen Betrachtung – und was hat historisch betrachtet das Visualisieren begründet, wenn nicht die Kreidetafel? Eine kurze Anmerkung zur Geschichte der Kreidetafel findet sich in den „Computermalern“ – wie in der Einleitung zu diesem Blog angekündigt hier nun die mangels Praxisrelevanz aus dem Buch „verbannten“ Gedanken dazu. Ich finde die Geschichte einfach zu schön, um nicht niedergeschrieben (und gelesen) zu werden – bin aber keineswegs beleidigt, falls der pragmatischere Leser nach wenigen Zeilen in eine praxisrelevantere Kategorie dieses Blogs wechselt.
Die Erfindung der Kreidetafel („blackboard“) und der dazugehörigen farbigen Tafelkreide wird üblicherweise James Pillans1 (1778 – 1864, Rektor an der Royal High School, Edinburgh, später Professor an der renommierten und heute wie damals einflussreichen University of Edinburgh) zugeschrieben – so steht es in Wikipedia2 und an vielen anderen Orten3 im Internet. Gerade zu der Frage, wer etwas erfunden habe, überrascht mich das Internet und nicht zuletzt auch Wikipedia immer wieder durch Ungenauigkeit und eine erstaunliche Menge von Fehlinformationen: Pillans war keineswegs der Erste, der eine wie auch immer geartete Tafel und Kreide zur Visualisierung vor Gruppen eingesetzt hat – der Gedanke ist auch einfach zu naheliegend, um nicht schon viel früher in einer Kultur mit einem geregelten Bildungswesen aufgekommen zu sein. So findet sich zum Beispiel in Johann Amos Comenius‘ „Orbis sensualium pictus“ („Die sichtbare Welt“) von 1658 in verschiedenen Ausgaben – so auch in der Lateinisch-Englischen Ausgabe von 17054, die Pillans bekannt gewesen sein dürfte – die Abbildung eines Klassenzimmers5 mit einer Wandtafel („6.“), die offenbar mit Kreide beschriftet wurde.
Die Beschriftung dazu („Quaedam praescribuntur illis Cretâ in Tabella“ und „Some things are writ [sic!] down before them with Chalk on a Table“) ist eindeutig. Da das „Orbis pictus“ als ein (vor allem Latein) lehrendes Bilderbuch versuchte, die Lebenswelt seiner Leser (in der Regel Schüler) abzubilden, ist davon auszugehen, dass die Schultafel bereits lange vor Pillans Geburt in Europa verbreitet war. Comenius´ Werk hat sich schnell über ganz Europa verbreitet und war vom 17. bis hinein ins 19. Jahrhundert ein häufig genutztes Schulbuch – es ist also auch kaum plausibel, dass Pillans es nicht kannte.
Betrachten wir Pillans also vor allem als Erfinder der farbigen Tafelkreide – ohne Zweifel eine Innovation, die ihn unabhängig von der Erfindungsgeschichte der Tafel selbst zu einem der Urväter der Visualisierung macht – und wenden wir uns ab von der eigentlichen Kreidetafel und eben dieser Erfindungsgeschichte der farbigen Tafelkreide zu. Pillans beschreibt in einer Randbemerkung zu seinen „Elements of physical and classical geography“ (1864) sehr genau die Entwicklung von Tafel und Kreide und die Anwendung im Geographieunterricht. Dankenswerterweise ist uns auch dieses Werk über das Internet Archive in hoher Qualität zugänglich6. Pillans neigt zu einer selbst für die Schriftsprache seiner Zeit ein wenig exaltiert anmutenden Grammatik; zudem handelt es sich bei weiten Teilen seiner Randbemerkung um eine Art „Kochrezept“ auf Basis von mineralischen Farbenpigmenten. Auch ein des Englischen mächtiger Leser ist also vielleicht dankbar für meinen Versuch einer auszugsweisen Übersetzung:
„Lassen Sie ein Brett [i.O. „board“, daraus entstand der Begriff „blackboard“; Anm. d. Übers] mit einer samtschwarzen, nicht reflektierenden Oberfläche beschaffen und zeichnen Sie eine Umrisskarte darauf mit Kreide von einer für das skizzierte Objekt angemessenen Farbe – Grün für die Berge, Hellblau für die Flüsse, Pink oder eine [andere] eindeutige Farbe für die Städte und ein rotes Kreuz für die Schauplätze von Schlachten und Belagerungen – und es wird als das Vorstellungsvermögen stark erhöhend und als dem Erinnerungsvermögen dienend befunden werden.“7
Pillans ist offensichtlich begeistert von seiner (Weiter‑)Entwicklung und deren Wirksamkeit – in einer folgenden Anmerkung zum obigen einleitenden Text beschreibt er die Entwicklungsgeschichte und liefert vor allem Rezepte, die explizit zur Nachahmung gedacht scheinen. Es ist keineswegs so, dass er für sich in Anspruch nimmt, etwas erfunden zu haben – das ist eine moderne Zuschreibung; Pillans schien vor allem daran gelegen, dass sein die Tafel perfektionierender Ansatz Nachahmer findet:
„Als ich mich das erste Mal entschloss, Geographie nach den hier dargelegten Prinzipien zu unterrichten, machte ich mehrere Versuche, bevor es mir endlich gelang, ein Brett bereitzustellen, auf dem die farbigen Skizzen für jeden Zuschauer in einer zahlreichen Klasse sichtbar sein sollten. Sperrholz [i.O.: „Coach-panel“, bemalte hölzerne (Tür‑)Verkleidungen oder Teile der Kutschen-Karosserie], Mahagoni und verschiedene schwarz angemalte oder gebeizte Harthölzer wurden ausprobiert und als kritikwürdig befunden – insbesondere dahingehend, dass, da sie ziemlich viel Licht reflektierten, es immer einen Bereich der Schülerschaft gab, dessen Augen in einer Linie mit den reflektierten Strahlen war und die deswegen nichts sehen konnten von dem, was ich veranschaulicht hatte. Letztendlich fand ich heraus, dass ein quadratisches Brett aus Buchenholz, nicht zu fein gehobelt und schwarz angemalt mit Blauholzextrakt [Hämatein, eine aus dem Blutholzbaum (Haematoxylum campechianum) gewonnene dunkelblau-violette Beize; Anm. d. Übers.] oder anderer Farbe, den zu absorbierenden Lichtstrahlen am besten begegnet und die Kreidelinien am vollständigsten und ansprechendsten unterstützt. So ein Brett von angemessenen Dimensionen ist beileibe kein teurer Gegenstand; ebenso die Malkreiden unterschiedlicher Farbe, da viele vom Lehrer oder einem Schüler hergestellt werden können und da sie jahrelang Dienste leisten werden für einen Preis erheblich unter einer halben Krone, wenn sie gemäß dem folgenden Rezept hergestellt werden: Die Grundlage oder das Fundament für alles ist gewöhnliche Kreide, die zuerst in einem Mörser zu einer mäßigen Feine gestampft wird; füge eine kleine Menge Preußisch- oder Chinesisch Blau [auch Berliner Blau; ein und dieselbe komplexe Eisenverbindung; Anm. d. Übers.] (6 d. per oz. [„oz.“ dürfte eine englische oder schottische Unze sein, die Bedeutung von „d.“ ist mir hingegen unklar; Anm. d. Übers.]) hinzu, vermische und befeuchte sie mit einem Teelöffel Haferschleim, um ihm die passende Konsistenz zu geben. Verarbeite sie weiter zu einer gleichmäßigen Paste von der Nuance des Blauen, die erwünscht ist, rolle sie zwischen den Handflächen zu Malkreiden, bestäube sie mit Weizenstärke [i.O. „weak [sic] starch“] und lege sie auf Löschpapier in die Sonne oder vor ein schwaches Feuer: Wenn sie trocken sind, sind sie gebrauchsfertig. Wenn zu der noch im Mörser befindlichen blauen Paste ein wenig Chromgelb [eine Blei- und Chromverbindung; Anm. d. Übers.] (2 d. per oz.) hinzugefügt wird, wird eine grüne Paste das Ergebnis sein; oder ein wenig Braunschweigisches Grün [eine Kupferverbindung; Anm. d. Übers.], ebenso preiswert, kann sofort mit der weißen Kreide gemischt werden; eine Prise von Mennige [eine Bleiverbindung; Anm. d. Übers.] wird eine rote Malkreide beliebiger Intensität erzeugen.“8
In Pillans kamen drei Dinge zusammen, deren Mischung vermutlich das Rezept vieler innovativer Erfindungen ist:
- Der Bedarf – für den Geographieunterricht, …
- … das notwendige Wissen – als geowissenschaftlich vorgebildeter wusste Pillans um Kreide und vor allem um mineralische Farbpigmente und …
- … der Wille zur Innovation – Pillans gilt als innovativer „Reformpädagoge“; er führte z. B. an der Royal High School das „monitorial system“ (pädagogisches System, in dem fortgeschrittene Schüler als Wissens-Multiplikator eingesetzt werden und der Lehrer vor allem die überwachende Rolle („Monitor“) einnimmt) ein.
Ist eine Innovation erst einmal erschaffen, findet sie schnell Verbreitung: Von George Baron (1769 – 1812), dem ersten Mathematik-Professor an der heutigen United States Military Academy (USMA, West Point), wird häufig behauptet, er habe das „blackboard“ ab 1801 in seinem Unterricht in West Point genutzt und es damit in Nordamerika eingeführt9. Ersteres mag stimmen, Letzteres ist kaum plausibel: Da die Schultafel in Europa offenbar bereits hinreichend verbreitet war, um Eingang in Comenius‘ „Orbis sensualium pictus“ zu finden, dürfte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits durch andere Immigranten ihren Weg in die Schulen der „neue Welt“ gefunden haben. Dennoch: Baron stammt aus Northumberland im Nordosten Englands an der schottischen Grenze – die räumliche Nähe zu Edinburgh macht einen Kontakt zum neun Jahre jüngeren Pillans oder zumindest seinem innovativen Umgang mit der Schultafel nicht unwahrscheinlich. Eine biographische Anmerkung in einem Artikel über die Geschichte amerikanischer Mathematik-Journale10 datiert seine Emigration auf 1798 – seine ersten rund 30 Lebensjahre hat Baron also in seiner alten Heimat verbracht. Da er bereits 1801 (also fast direkt nach seiner Immigration) als Professor an die heutige USMA berufen wurde11, ist eine lehrende Tätigkeit bereits vor seiner Emigration wahrscheinlich. Northumberland ist auch heute noch der am dünnsten besiedelte Landstrich Englands – eine Lehrtätigkeit im wenige Meilen nördlich gelegenen Edinburgh erscheint daher naheliegend. Es ist also zumindest denkbar, dass die intensive Nutzung der Schultafel von Pillans über Baron und West Point ihren Weg in die Lehrsäle amerikanischer Universitäten fand.
Zusammenfassend können wir also entgegen der Aussagen einschlägiger Lexikonartikel festhalten: Weder hat Pillans die Schultafel erfunden (möglicherweise allerdings die farbige Tafelkreide), noch ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach erst von Baron in Nordamerika eingeführt worden. Beides dürfte deutlich früher erfolgt sein.
Wer (wann) tatsächlich die Schultafel erfunden hat, bleibt also vorerst unklar – auch zum Beispiel die liebevoll zusammengetragene populärwissenschaftliche Monographie zur Schultafel von Franz Wich12 lässt diese Frage offen. Das Konzept ist – ich erwähnte es bereits eingangs – auch einfach zu naheliegend, um nicht fast zwangsläufig aus einer Lehr- oder Erklärsituation heraus entwickelt zu werden. Irgendjemand wird wohl bereits vor Jahrtausenden begonnen haben, erklärende Skizzen mit einem Stock in den Boden zu ritzen – womöglich, bevor die Vorgänger unserer Spezies physiologisch zu gesprochener Sprache in der Lage waren. Gegenstand der ersten Visualisierungen dürfte also so etwas wie „der Plan, gemeinsam das Mammut einzukreisen“ gewesen sein – das Vorhandensein geeigneter ikonographischer Zeichen ist an vielen Höhlenwänden auf der ganzen Welt hinreichend belegt. Visualisieren als Kommunikationsergänzung ist vermutlich – quasi als pragmatischer „kleiner Bruder“ der bildenden Kunst – einfach ein anthropologisches Phänomen, eine immanente Eigenschaft des sozialen Wesens „Mensch“.
Footnotes:
- ↑ Vgl. <http://en.wikisource.org/w/index.php?title=Pillans,_James_%28DNB00%29&oldid=3279483>.
- ↑ Vgl. <http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schreibtafel&oldid=105373381> (30.09.2012) und <http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Blackboard&oldid=514170369#Etymology_and_history> (30.09.2012).
- ↑ Eine Google-Suche nach „James Pillans“ liefert unterschiedlichste Quellen.
- ↑ <http://archive.org/details/johamoscommeniio00come>.
- ↑ ebenda, S. 119, „XCVII. A School/Schola“; Hervorhebung in der Abbildung durch den Verfasser.
- ↑ <http://archive.org/details/elementsofphysic00pill>.
- ↑ Pillans, James: Elements of physical and classical geography. Edinburgh, London: William Blackwood & Sons 1864. S. XXXI.
- ↑ ebenda, S. XLV-XLVII.
- ↑ Vgl. z. B. den englischsprachigen Wikipedia-Artikel zu George Baron unter http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=George_Baron&oldid=487832605 oder aber z. B.
http://people.lis.illinois.edu/~chip/projects/timeline/1801wojenski.htm(am 03.10.2012 archiviert unter http://www.webcitation.org/6B8SwYUl8) undhttp://www.ergoindemand.com/about_chalkboards.htmam 03.10.2012 archiviert unter http://www.webcitation.org/6B8T0I697) - ↑ Zitarelli, David E.: The Bicentennial of American Mathematics Journals. In: The College Mathematics Journal 36 (2005). S. 2 – 15. Auch unter
http://math.temple.edu/~zit/Zitarelli/MC.pdf(am 03.10.2012 archiviert unter http://www.webcitation.org/6B8TBU4HW). - ↑ Zur hochinteressanten Berufungsgeschichte siehe http://fredrickey.info/dms/DeptHeads/Baron-George.htm (am 22.12.2013 archiviert unter http://www.webcitation.org/6M3jASSyl) – insbesondere die dort zitierten Briefwechsel.
- ↑ Wich, Franz: Das große Buch der Schultafel. Halle: Projekte-Verlag Cornelius GmbH 2008.
Bei „6 d. per oz.“ und „2 d. per oz.“ könnte es sich um eine Preisangabe für die betreffenden Substanzen handeln. Vor der Einführung der dezimalen Währung in England stand d. für penny von lateinisch denarius.
In der Tat, das ist hochgradig plausibel. Auch der Kontext spricht sehr dafür, da Pillans nach Erwähnung der ersten derartigen Angaben für einzelne Substanzen ja auch noch darauf hinweist, dass Braunschweigisches Grün „ebenso preiswert“ sei.
Vielen Dank für den Hinweis!
„d“ steht für den englischen Pennt 🙂