Das eine oder andere Feedback (vielen Dank!) zu „Warum ist ’schönes Zeichnen‘ wichtig?“ rückte (nicht zum ersten Mal) eine Problematik in meinen Fokus, die man als konträr zum Problem des „lieblos Zeichnens und unleserlich Schreibens“ begreifen kann: Es gibt auch „zu viel des Guten“ – es ist durchaus möglich, ein Gespräch oder einen Vortrag so umfangreich und/oder aufwendig visuell zu begleiten, dass die Visualisierung als Handlung den sprachlichen und visuellen Inhalten den Rang abläuft, von der Begleitung zum unfreiwilligen (Meta‑)Thema wird. Was für vorgefertigte PowerPoint-Präsentationen als „PP Phluff“1 (Edward Tufte) – in der Regel bunt, multimedial und mit wenig Bezug zum eigentlichen Inhalt – neben den erstaunlich verbreiteten „Slideuments“ als Problem wahrgenommen wird, kann analog ebenso auf Whiteboard und Flipchart ein Problem werden: Auch mit „analogen“ Mitteln ist es möglich, über das Ziel hinauszuschießen, vor lauter Begeisterung für das Visuelle den Prozess des Visualisierens den Inhalten über- und nicht unterzuordnen oder gar gänzlich den Bezug zum Inhalt zu verlieren2. Die eigene intensive Beschäftigung mit Visualisierungsthemen, die Begeisterung dafür, manchmal einfach nur „die tollen neuen Stifte“, sind einfach viel zu verlockend – es ist schlichtweg unwahrscheinlich, dass mit einem begeisterten Menschen nicht hin und wieder die Pferde durchgehen. Darüber hinaus ist das „Dosieren“ oft sowieso schwierig – je nach Teilnehmerkreis und dessen Gewöhnung an das Visuelle (ohne PowerPoint) tritt eine „Überdosierung“ unterschiedlich früh (oder spät) ein.
Woran nun merkt man (möglichst bereits im laufenden Gespräch), dass man das Visualisieren in einem Maße „überdosiert“ hat, das die (Kommunikations‑)Methode den zu kommunizierenden Inhalt in der Wahrnehmung der Teilnehmer verdrängt? Man könnte jetzt einfach sagen: Spätestens, wenn Ihre Visualisierung einem schwach strukturierten Wimmelbild gleicht, haben Sie es übertrieben – aber dann ist es sowieso bereits um Klarheit und Deutlichkeit geschehen. Nach meiner Erfahrung gibt es einen wirklich einfachen, frühzeitig erkennbaren Indikator: Immer, wenn Teilnehmer bereits während des Gesprächs oder Vortrags3 das Visuelle auf der Meta-Ebene zum Thema machen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man „überdosiert“ hat, dass die Betrachtung des Visualisierungsprozesses zu einer Ablenkung zu werden droht4 – und man spätestens jetzt gegensteuern und die „Dosierung“ reduzieren sollte.
Falls Ihre Visualisierung im Anschluss an Ihre Ausführungen gelobt wird: Freuen Sie sich und seien Sie stolz! Wird sie jedoch bereits währenddessen zum Thema, haben Sie womöglich Ihr eigentliches Thema „übermalt“.
Footnotes:
- ↑ Tufte, Edward R.: The Cognitive Style of PowerPoint. Pitching Out Corrupts Within. 2. Aufl. 2006. Cheshire, Connecticut: Graphics Press 2006., S. 6. In Auszügen kostenlos unter <http://www.edwardtufte.com/bboard/q‑and-a-fetch-msg?msg_id=0001yB>, im Volltext als preiswerter Download unter <http://www.edwardtufte.com/tufte/ebooks>.
- ↑ Prinzipiell ist sogar Tuftes „bureaucracy of bullets“ (Tufte, a. a. O., S. 13.) ebenfalls am Flipchart realisierbar – stört jedoch meist nicht, da sie in i. d. R. Ergebnis z. B. eines gemeinsamen Brainstormings ist und somit von den Teilnehmern völlig anders wahrgenommen wird.
- ↑ In klassischen Vortrags-Situationen ist dies leider nur sehr schwer zu bemerken – achten Sie umso genauer z. B. auf die Inhalte von getuschelten „Nebengesprächen“.
- ↑ Genau genommen hat sie in genau dem Moment bereits den Prozess unterbrochen – lies: abgelenkt.