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Von der Klischee-Falle des Visualisierens

Tim Themann

Spra­che beein­flusst das Denken.1 Unter ande­rem des­we­gen ach­ten wir auf unse­re Wor­te – oft unter Beach­tung der je nach Kon­text m. E. ja durch­aus sinn­vol­len „Poli­ti­schen Kor­rekt­heit“ („poli­ti­cal cor­rect­ness“). Das soll­ten wir auch mit unse­ren visu­el­len Wör­tern tun – erst recht, wenn wir uns gera­de in einer Pha­se des begeis­ter­ten „visu­el­len Sprach­er­werbs“ befinden!

Spre­che ich, so bin ich um eine eini­ger­ma­ßen ver­ständ­li­che (Aus‑)​Sprache bemüht, möch­te ich ver­steh­bar sein. Zeich­ne ich – visua­li­sie­re ich –, bemü­he ich mich ana­log dazu um kla­re Erkennbar­keit. „Erken­nen“ ist das Prä­fix­verb zu „ken­nen“; schon die Ety­mo­lo­gie des Wor­tes legt nahe: „Erkenn­bar­keit“ auch i. S. von „etwas Gezeich­ne­tes erken­nen kön­nen“ hat etwas damit zu tun, dass man den Gegen­stand der Visua­li­sie­rung in der dar­ge­stell­ten Form kennt. Erkenn­bar wer­den Din­ge vor allem dadurch, dass wir mög­lichst arche­ty­pisch visua­li­sie­ren – und damit im Zusam­men­hang mit Men­schen eben auch fast zwangs­läu­fig ste­reo­ty­pisch.

Und so wer­den Geh­we­ge eben schein­bar vor­ran­gig von (auf jeden Fall einen Rock tra­gen­den und dar­an zu erken­nen­den) Frau­en (Müt­tern?) mit (ihren?) Kin­dern benutzt. Män­ner fah­ren offen­bar eher mit dem Auto. Denk­bar ist natür­lich auch, dass es sich um einen allein­er­zie­hen­den Schot­ten in tra­di­tio­nel­ler Klei­dung han­deln soll – der wäre des Arche­ty­pus wegen aber ver­mut­lich eher mit einem Dudel­sack in der frei­en Hand dar­ge­stellt wor­den. Män­nern – oder aber der visu­el­len Vari­an­te des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums2 – sind hin­ge­gen offen­bar die Ver­bots­schil­der vor­be­hal­ten. Frau­en uri­nie­ren im Sit­zen, Män­ner in einer eher frag­wür­di­gen Pose im Ste­hen. Ich uri­nie­re im Sit­zen und besit­ze weder ein Auto noch einen Füh­rer­schein. Ich bin Füh­rungs­kraft und tra­ge nur sehr sel­ten eine Kra­wat­te – bin ich noch „rich­tig“, wenn prak­tisch immer alle Füh­rungs­kräf­te in Form von Kra­wat­ten tra­gen­den Strich­männ­chen visua­li­siert wer­den? Ich bin irritiert.

Wir haben uns auf der Sei­te des Rezi­pi­en­ten, auf der Sei­te des Betrach­ters, an extrem und bis hin zum Kli­schee­haf­ten oder gar zum Vor­ur­teil3 poin­tier­te arche- und ste­reo­ty­pi­sche Dar­stel­lun­gen gewöhnt – wir sind umge­ben davon und mer­ken es kaum noch. Und so wird womög­lich ange­regt (und völ­lig ohne Hin­ter­ge­dan­ken) dar­über phi­lo­so­phiert, ob man Migran­ten nicht mit Kopf­tuch visua­li­sie­ren könne​4. Über­set­ze ich die­se Visua­li­sie­rung in die gespro­che­ne Spra­che (erstaun­lich häu­fig eine sehr gute Nagel­pro­be!), ist sie nicht weit von Thi­lo Sar­ra­zins „Kopf­tuch­mäd­chen“​5 ent­fernt – und lie­be­voll selbst gezeich­net bemer­ken wir das womög­lich nicht ein­mal! Die Begeis­te­rung für das Zeich­nen hat uns davon­ge­tra­gen; die sonst übli­che und ange­mes­se­ne sprach­li­che Zurück­hal­tung wur­de im Über­schwang des Augen­blicks auf dem Altar der Erkenn­bar­keit geopfert.

In der gespro­che­nen Spra­che legen wir (aus guten Grün­den) unse­re Wor­te (zumin­dest zu bestimm­ten The­men) auf die Gold­waa­ge – aber visu­ell „plap­pern“ wir häu­fig mit der Arg­lo­sig­keit eines klei­nen Kin­des im Wort­schatz­spurt ein­fach drauf los. Was im Fal­le eines im Sprach­er­werb befind­li­chen Kin­des noch erwar­tungs­kon­form und im Zwei­fel ein­fach „süß“ sein mag, erscheint mir im Fal­le des visu­el­le Wör­ter ent­de­cken­den Erwach­se­nen manch­mal gera­de­zu fahrlässig.

Die Not­wen­dig­keit des Erkenn­bar-Arche­ty­pi­schen erzeugt zwangs­läu­fig ein Dilem­ma: Bedie­ne ich Ste­reo­ty­pen, mit denen ich eigent­lich nichts zu tun haben möch­te – oder ris­kie­re ich, unver­ständ­lich zu visua­li­sie­ren? Möch­te ich mir wirk­lich die kli­schee­haf­ten Vor­ur­tei­le, die (ver­meint­lich?) nötig sind, um klar erkenn­bar zu zeich­nen, qua mei­ner Visua­li­sie­rung zu eigen machen?

Beim Zeich­nen soll­ten wir nicht ver­ges­sen: Die Wahl des Arche­ty­pus ent­hält immer auch eine Selbst­kund­ga­be. Um der Erkenn­bar­keit wil­len visua­li­sie­re ich, was ich für arche­ty­pisch hal­te – oder zumin­dest, was mei­ner Auf­fas­sung nach von ande­ren Men­schen für arche­ty­pisch gehal­ten wird. Das sagt in bei­den Fäl­len sehr viel über mich selbst – und ich kann nicht sicher steu­ern, wel­cher Fall vom Betrach­ter ange­nom­men wird. Die Gefahr ist groß, dass mir auf­grund mei­ner ste­reo­ty­pi­schen Visua­li­sie­run­gen eine Hal­tung zuge­schrie­ben wird, die ich gar nicht habe – und mit der ich womög­lich gar nicht asso­zi­iert wer­den möch­te. Möch­te ich wirk­lich als ein Mensch wahr­ge­nom­men wer­den, der Kopf­tü­cher für „typisch Migrant“ hält und mit „Süd­län­dern“ im Wesent­li­chen die tol­len Oliv-Braun-Töne der neu­en Pas­tell-Mar­ker assoziiert?

Visua­li­siert man Men­schen, geht es natur­ge­mäß eher um Ste­reo­ty­pi­sches als um Arche­ty­pi­sches – also letzt­lich um Zuschrei­bun­gen, die man gan­zen Men­schen­grup­pen ange­dei­hen lässt. Ich ver­all­ge­mei­ne­re damit (höchst­wahr­schein­lich fälsch­lich) ein spe­zi­fi­sches Merk­mal und hebe es dedi­ziert her­vor – redu­zie­re Men­schen poten­zi­ell in gewis­ser Wei­se sogar dar­auf. Was das bedeu­ten kann, sieht man m. E. her­vor­ra­gend am bereits erwähn­ten Kopf­tuch: Was wir womög­lich als „klar erkenn­ba­re Visua­li­sie­rung“ betrach­ten, wird im Iran gera­de unter Inkauf­nah­me schwe­rer Repres­sio­nen abge­nom­men und als Zei­chen des Pro­tests wie eine Fah­ne in die Luft gehal­ten. Die Zuschrei­bung „Migrant = Islam = Kopf­tuch“ iden­ti­fi­ziert min­des­tens einen Teil der so visua­li­sier­ten Men­schen also über etwas, was nicht stimmt oder was sie ableh­nen – und was womög­lich Migra­ti­ons­grund war.

Ein Strich­männ­chen mit Kopf­tuch ist im Kern nur ein (ver­mut­lich weib­li­cher) Mensch mit Kopf­tuch. Dass es sich um eine Migran­tin han­delt, ent­steht in unse­rem eige­nen Kopf – oft auf­grund von Kon­text, aber eben auch auf­grund der in unse­rem Kopf erstaun­lich fest abge­spei­cher­ten Ste­reo­ty­pen. Es könn­te sich eben­so gut um eine Non­ne han­deln – genau­so, wie die Figur auf dem oben erwähn­ten Geh­weg-Schild ein Schot­te sein könn­te. Akku­mu­lie­re ich meh­re­re die­ser Ste­reo­ty­pen, ent­steht m. E. übri­gens nur eine Samm­lung von Ste­reo­ty­pen – und kei­ne Dar­stel­lung von „Viel­falt“. Gebe ich mei­nen Strich­männ­chen vie­le unter­schied­li­che Haut­far­ben und zeich­ne ich eini­ge mit Kopf­tuch oder Rock, zei­ge ich so vor allem eine Samm­lung der in mei­nem Kopf ver­bor­ge­nen ste­reo­ty­pi­schen Annah­men – eine Selbst­kund­ga­be, deren ein­zi­ger Nut­zen eigent­lich nur sein kann, einen Refle­xi­ons­pro­zess anzuregen.

Ich emp­feh­le an die­ser Stel­le die (eher erschre­cken­de denn inspi­rie­ren­de) Suche bei­spiels­wei­se nach „diver­si­ty“ in einer ein­schlä­gi­ge Clip­art-Daten­bank (z. B. Open­Clip­art). Qui s’excuse, s’accuse6 – was in einer Gesell­schaft unter dem Stich­wort „diver­si­ty“ in den Clip­art-Daten­ban­ken lan­det, sagt wohl mehr über ihre Defi­zi­te aus als über „Viel­falt“.

Um auf die Idee des Über­set­zens in die gespro­che­ne Spra­che zurück­zu­kom­men: Das ist m. E. in dop­pel­ter Hin­sicht eine gute Nagel­pro­be. Hat das in „nor­ma­le“ Spra­che über­setz­te visu­el­le Wort einen ähn­li­chen Bei­geschmack wie das erwähn­te „Kopf­tuch­mäd­chen“, ist es offen­kun­dig kei­ne gute Visua­li­sie­rung. Und gelingt es einem in einem wei­te­ren Schritt nicht ein­mal, das Ding oder den Sach­ver­halt unab­hän­gig vom Visu­el­len in Wor­te zu fas­sen, ohne einen üblen Bei­geschmack fest­stel­len zu müs­sen, liegt es viel­leicht ein­fach am Gedanken.

„Der Stift ist mäch­ti­ger als das Schwert“​7, die sprich­wört­li­che „Macht der Bil­der“ wächst ob zuneh­mend (digital‑)​visuell gepräg­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­ti­nu­ier­lich – und auch die eben­so pro­ver­bia­le „Macht der Wor­te“ ist nicht zu unter­schät­zen. Wie mäch­tig mögen da erst visu­el­le Wör­ter, gezeich­net mit dem Stift, sein? Betrach­tet man das visu­el­le Den­ken („visu­al thin­king“), ist dabei ver­mut­lich der ein­gangs erwähn­te Aspekt der mäch­tigs­te: Spra­che beein­flusst das Den­ken – auch visu­el­le Spra­che. Röcke, Kopf­tü­cher, Kra­wat­ten – all die­se visu­el­len Zei­chen bedie­nen sich fest gefass­ter Vor­stel­lun­gen davon, wie die Welt sein soll­te. Visu­el­les Den­ken kann nie­mals über die­se Vor­stel­lun­gen hin­aus­wach­sen, wenn unser visu­el­ler Wort­schatz das fest Gefass­te zemen­tiert. Wenn wir wirk­lich möch­ten, dass „visu­al thin­king“ unse­ren Hori­zont erwei­tert (und nicht ver­engt), müs­sen wir auf unse­re visu­el­le Wort­wahl ach­ten – und alles tun, die Kli­schee-Fal­le zu meiden!

Foot­no­tes:

  1.  Die sog. Sapir-Whorf-Hypo­the­se.
  2.  Den ich in der gespro­che­nen und geschrie­be­nen Spra­che aus prag­ma­ti­schen Erwä­gun­gen her­aus auch häu­fig ver­wen­de. Vie­le Tex­te sind m. E. auch ohne Anfüh­rung aller mög­li­chen Movie­run­gen unles­bar genug – und mir erscheint das gene­ri­sche Mas­ku­li­num im Fließ­text je nach Kon­text deut­lich weni­ger ein­fluss­reich als die Dar­stel­lung einer Frau (Mut­ter?) mit (ihrem?) Kind als Gehwegbenutzer[in].
  3.  Bei genaue­rer Betrach­tung der exak­ten Bedeu­tung von „Kli­schee“ ist „Vor­ur­teil“ übri­gens erstaun­lich häu­fig die rich­ti­ge­re Wortwahl.
  4.  Ein Ste­reo­typ, der neben­bei bemerkt nur auf Frau­en passt.
  5.  Vgl. bspw. <http://​www​.zeit​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​d​e​u​t​s​c​hland/2009 – 10/s­ar­ra­zin-aeus­se­rung-inte­gra­ti­on/­kom­plett­an­sicht> (06.02.2018).
  6.  Unter ande­rem frz. Sprich­wort; „Wer sich ver­tei­digt, klagt sich an.“. Mei­nes Wis­sens meist wahl­wei­se Robes­pierre oder Hie­ro­ny­mus („Dum excusa­re cre­dis, accu­sas.“) zuge­schrie­ben, ver­mut­lich aber viel älter.
  7.  „The pen is might­ier than the sword“, Übers. d. Autors.
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