Sprache beeinflusst das Denken.1 Unter anderem deswegen achten wir auf unsere Worte – oft unter Beachtung der je nach Kontext m. E. ja durchaus sinnvollen „Politischen Korrektheit“ („political correctness“). Das sollten wir auch mit unseren visuellen Wörtern tun – erst recht, wenn wir uns gerade in einer Phase des begeisterten „visuellen Spracherwerbs“ befinden!
Spreche ich, so bin ich um eine einigermaßen verständliche (Aus‑)Sprache bemüht, möchte ich verstehbar sein. Zeichne ich – visualisiere ich –, bemühe ich mich analog dazu um klare Erkennbarkeit. „Erkennen“ ist das Präfixverb zu „kennen“; schon die Etymologie des Wortes legt nahe: „Erkennbarkeit“ auch i. S. von „etwas Gezeichnetes erkennen können“ hat etwas damit zu tun, dass man den Gegenstand der Visualisierung in der dargestellten Form kennt. Erkennbar werden Dinge vor allem dadurch, dass wir möglichst archetypisch visualisieren – und damit im Zusammenhang mit Menschen eben auch fast zwangsläufig stereotypisch.
Wir haben uns auf der Seite des Rezipienten, auf der Seite des Betrachters, an extrem und bis hin zum Klischeehaften oder gar zum Vorurteil3 pointierte arche- und stereotypische Darstellungen gewöhnt – wir sind umgeben davon und merken es kaum noch. Und so wird womöglich angeregt (und völlig ohne Hintergedanken) darüber philosophiert, ob man Migranten nicht mit Kopftuch visualisieren könne4. Übersetze ich diese Visualisierung in die gesprochene Sprache (erstaunlich häufig eine sehr gute Nagelprobe!), ist sie nicht weit von Thilo Sarrazins „Kopftuchmädchen“5 entfernt – und liebevoll selbst gezeichnet bemerken wir das womöglich nicht einmal! Die Begeisterung für das Zeichnen hat uns davongetragen; die sonst übliche und angemessene sprachliche Zurückhaltung wurde im Überschwang des Augenblicks auf dem Altar der Erkennbarkeit geopfert.
In der gesprochenen Sprache legen wir (aus guten Gründen) unsere Worte (zumindest zu bestimmten Themen) auf die Goldwaage – aber visuell „plappern“ wir häufig mit der Arglosigkeit eines kleinen Kindes im Wortschatzspurt einfach drauf los. Was im Falle eines im Spracherwerb befindlichen Kindes noch erwartungskonform und im Zweifel einfach „süß“ sein mag, erscheint mir im Falle des visuelle Wörter entdeckenden Erwachsenen manchmal geradezu fahrlässig.
Die Notwendigkeit des Erkennbar-Archetypischen erzeugt zwangsläufig ein Dilemma: Bediene ich Stereotypen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben möchte – oder riskiere ich, unverständlich zu visualisieren? Möchte ich mir wirklich die klischeehaften Vorurteile, die (vermeintlich?) nötig sind, um klar erkennbar zu zeichnen, qua meiner Visualisierung zu eigen machen?
Beim Zeichnen sollten wir nicht vergessen: Die Wahl des Archetypus enthält immer auch eine Selbstkundgabe. Um der Erkennbarkeit willen visualisiere ich, was ich für archetypisch halte – oder zumindest, was meiner Auffassung nach von anderen Menschen für archetypisch gehalten wird. Das sagt in beiden Fällen sehr viel über mich selbst – und ich kann nicht sicher steuern, welcher Fall vom Betrachter angenommen wird. Die Gefahr ist groß, dass mir aufgrund meiner stereotypischen Visualisierungen eine Haltung zugeschrieben wird, die ich gar nicht habe – und mit der ich womöglich gar nicht assoziiert werden möchte. Möchte ich wirklich als ein Mensch wahrgenommen werden, der Kopftücher für „typisch Migrant“ hält und mit „Südländern“ im Wesentlichen die tollen Oliv-Braun-Töne der neuen Pastell-Marker assoziiert?
Visualisiert man Menschen, geht es naturgemäß eher um Stereotypisches als um Archetypisches – also letztlich um Zuschreibungen, die man ganzen Menschengruppen angedeihen lässt. Ich verallgemeinere damit (höchstwahrscheinlich fälschlich) ein spezifisches Merkmal und hebe es dediziert hervor – reduziere Menschen potenziell in gewisser Weise sogar darauf. Was das bedeuten kann, sieht man m. E. hervorragend am bereits erwähnten Kopftuch: Was wir womöglich als „klar erkennbare Visualisierung“ betrachten, wird im Iran gerade unter Inkaufnahme schwerer Repressionen abgenommen und als Zeichen des Protests wie eine Fahne in die Luft gehalten. Die Zuschreibung „Migrant = Islam = Kopftuch“ identifiziert mindestens einen Teil der so visualisierten Menschen also über etwas, was nicht stimmt oder was sie ablehnen – und was womöglich Migrationsgrund war.
Ein Strichmännchen mit Kopftuch ist im Kern nur ein (vermutlich weiblicher) Mensch mit Kopftuch. Dass es sich um eine Migrantin handelt, entsteht in unserem eigenen Kopf – oft aufgrund von Kontext, aber eben auch aufgrund der in unserem Kopf erstaunlich fest abgespeicherten Stereotypen.
Ich empfehle an dieser Stelle die (eher erschreckende denn inspirierende) Suche beispielsweise nach „diversity“ in einer einschlägige Clipart-Datenbank (z. B. OpenClipart). Qui s’excuse, s’accuse6 – was in einer Gesellschaft unter dem Stichwort „diversity“ in den Clipart-Datenbanken landet, sagt wohl mehr über ihre Defizite aus als über „Vielfalt“.
Um auf die Idee des Übersetzens in die gesprochene Sprache zurückzukommen: Das ist m. E. in doppelter Hinsicht eine gute Nagelprobe. Hat das in „normale“ Sprache übersetzte visuelle Wort einen ähnlichen Beigeschmack wie das erwähnte „Kopftuchmädchen“, ist es offenkundig keine gute Visualisierung. Und gelingt es einem in einem weiteren Schritt nicht einmal, das Ding oder den Sachverhalt unabhängig vom Visuellen in Worte zu fassen, ohne einen üblen Beigeschmack feststellen zu müssen, liegt es vielleicht einfach am Gedanken.
„Der Stift ist mächtiger als das Schwert“7, die sprichwörtliche „Macht der Bilder“ wächst ob zunehmend (digital‑)visuell geprägter Kommunikation kontinuierlich – und auch die ebenso proverbiale „Macht der Worte“ ist nicht zu unterschätzen. Wie mächtig mögen da erst visuelle Wörter, gezeichnet mit dem Stift, sein? Betrachtet man das visuelle Denken („visual thinking“), ist dabei vermutlich der eingangs erwähnte Aspekt der mächtigste: Sprache beeinflusst das Denken – auch visuelle Sprache. Röcke, Kopftücher, Krawatten – all diese visuellen Zeichen bedienen sich fest gefasster Vorstellungen davon, wie die Welt sein sollte. Visuelles Denken kann niemals über diese Vorstellungen hinauswachsen, wenn unser visueller Wortschatz das fest Gefasste zementiert. Wenn wir wirklich möchten, dass „visual thinking“ unseren Horizont erweitert (und nicht verengt), müssen wir auf unsere visuelle Wortwahl achten – und alles tun, die Klischee-Falle zu meiden!
Footnotes:
- ↑ Die sog. Sapir-Whorf-Hypothese.
- ↑ Den ich in der gesprochenen und geschriebenen Sprache aus pragmatischen Erwägungen heraus auch häufig verwende. Viele Texte sind m. E. auch ohne Anführung aller möglichen Movierungen unlesbar genug – und mir erscheint das generische Maskulinum im Fließtext je nach Kontext deutlich weniger einflussreich als die Darstellung einer Frau (Mutter?) mit (ihrem?) Kind als Gehwegbenutzer[in].
- ↑ Bei genauerer Betrachtung der exakten Bedeutung von „Klischee“ ist „Vorurteil“ übrigens erstaunlich häufig die richtigere Wortwahl.
- ↑ Ein Stereotyp, der nebenbei bemerkt nur auf Frauen passt.
- ↑ Vgl. bspw. <http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009 – 10/sarrazin-aeusserung-integration/komplettansicht> (06.02.2018).
- ↑ Unter anderem frz. Sprichwort; „Wer sich verteidigt, klagt sich an.“. Meines Wissens meist wahlweise Robespierre oder Hieronymus („Dum excusare credis, accusas.“) zugeschrieben, vermutlich aber viel älter.
- ↑ „The pen is mightier than the sword“, Übers. d. Autors.