Viele Präsentationen erinnern an „betreutes Lesen“: Extrem textlastige Folien dienen dem (sich häufig zum Vorlesen der Inhalte weg vom Publikum hin zu Leinwand gedrehten) Referenten quasi als Teleprompter; das Publikum liest meist mehr als das es zuhört – „Death by PowerPoint“ ist vorprogrammiert. Mein subjektiver Eindruck lässt sich sogar empirisch objektivieren:
- Eine durchschnittliche PowerPoint-Folie enthält über 30 Wörter (vgl. hier und hier) in durchschnittlich 8 Zeilen (vgl. hier).
- Seit nunmehr 14 Jahren beklagen die Teilnehmer an Dave Paradis (<http://www.thinkoutsidetheslide.com>) „Annoying PowerPoint Survey“, ihnen würden die Folien vorgelesen (vgl. hier).
Beides mag erschrecken, ist aber (insbesondere hoffentlich den Lesern dieses Blogs) nicht neu. Neu allerdings ist eine Zahl, die mir beim Lesen von Meinald Thielschs und Isabel Parebos (methodisch im Vergleich zu vielen anderen „PowerPoint-Studien“ übrigens angenehm fundierten) Studie zur Nutzung von Präsentationssoftware1 ins Auge stach:
- 63 % der Befragten gaben an, den „presenter view“ (die „Referentenansicht“) selten oder nie zu verwenden, lediglich 20 % der Befragten gaben an, diese Funktion häufig oder immer zu verwenden.
Es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Ist man kein total souveräner und textsicherer Referent, benötig man Stichworte – und sei es nur zur (gefühlten) Sicherheit. Kennt bzw. nutzt man nun die Referentenansicht (und damit vermutlich auch die Sprechernotizen) nicht, erstellt man fast zwangsläufig Folien, die sich als Teleprompter eignen, erstellt man fast automatisch Folien, die mehr dem Referenten als dem Publikum dienen. Und projiziert man quasi sein „Skript“, liest man es naturgemäß auch vor – ist es zum „betreuten Lesen“ nicht mehr weit.
Kurz: Angesichts der erfahrungsgemäß erstaunlich niedrigen Nutzungstiefe der Office-Produkte könnte die Nicht-Nutzung der Referentenansicht womöglich tatsächlich nicht (nur) Symptom, sondern (auch) Ursache sein!
Ich propagiere seit Jahren eine andere Art des Präsentierens, versuche, zu begründen, zu erklären und zu demonstrieren (vgl. hier) – und befinde mich damit in nicht gerade kleiner (und m. E. sehr guter) Gesellschaft. Ob der Feststellung, dass fast zwei drittel der PowerPoint-Nutzer den in PowerPoint integrierten „Teleprompter“ nicht nutzen (und womöglich nicht einmal kennen), frage ich mich allerdings tatsächlich: Tue ich das Richtige? Wäre es nicht in einem ersten Schritt womöglich viel effektiver, die Nutzung der Referentenansicht zu schulen, anstelle mit komplexen pädagogisch-didaktischen Erklärungen zu überzeugen zu versuchen? Ich sollte es, wir alle sollten es probieren!
Update 16. November 2015: Ein erster Versuch.
Footnotes:
- ↑ Thielsch, M. T. & Perabo, I. (2012). Use and evaluation of presentation software. Technical Communication, 59 (2), 112 – 123. <http://www.thielsch.org/download/paper/Thielsch_Perabo_2012.pdf> (24.10.2015).