In der Politik scheint mir das „Das erklär‘ ich auf einem Bierdeckel …“ ja eher Ausdruck mehr oder minder populistischer (Über‑)Simplifizierungen zu sein, vielen Übersimplifizierungen liegt die Annahme zugrunde, man wisse, was die Zukunft bringe – was liegt also näher, als einen Bierdeckel zu nutzen, um zu erklären, dass dem nicht so ist?
Man muss gar nicht das m. E. momentan überstrapazierte VUCA-Konzept2 bemühen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, man kann es auch trivial ausführen: Je länger mein Weg ist, desto mehr Unwägbarkeiten begegnen mir am Wegesrand – Faktoren, die ich meist nur begrenzt einschätzen wenn nicht gar schlicht übersehen kann.
Anders formuliert: Je weiter ich in die Zukunft schaue, desto nebulöser wird es3 …
… und das hat natürlich Einfluss auf die Größe des sinnvollen Planungshorizonts (Stift – im Diskurs nach rechts oder links verschiebbar):
Nun mag die Tatsache, dass man nur bis zu einem bestimmten Punkt sinnvoll [exakt bzw. vollständig] planen kann, trivial erscheinen – akzeptiert wird sie aber dennoch erstaunlich selten. Deswegen lohnt es sich häufig, zu einem zweiten „Bierdeckel“ (oder Flipchart-Blatt o. ä.) zu greifen und die Aussage noch einmal positiv zu formulieren: Je weiter ich in der Zeit fortschreite, desto mehr Möglichkeiten bieten sich (und haben sich entlang des Weges geboten):
Für Terry Pratchett-Fans: Die „Hose der Zeit“4 hat nicht nur zwei Beine5, es ist eher, als kleide man einen Tausendfüßler ein.
An dieser Stelle modifiziere ich die Zeichnung gern zur Diskussion eines weiteren Aspekts: Das Ziel als Punkt zu definieren, erscheint auf einmal nicht mehr sinnvoll, eine Ziellinie viel flexibler:
Definiere ich das Ziel über-konkret, lasse ich zu viele a‑priori-Annahmen über den Weg einfließen – definiere ich es „punktförmig“ – schließe ich womöglich Abzweigungen und Alternativen am Wegesrand von vornherein aus oder nehme sie auf meinem Weg gar nicht erst wahr. Das Ziel möglichst abstrakt zu formulieren, ohne es seines Kerns zu berauben – auf eine Ziellinie zuzuhalten – schärft die Wahrnehmung für Alternativen und macht die Möglichkeiten des Künftigen nutzbar.
Jetzt habe ich ausnahmsweise zwei „Bierdeckel“ vollgekritzelt – aber immerhin nicht (womöglich auch noch geprägt vom zu den Deckeln gehörigen Getränk) meist wenig operationalisierbar von einer „VUCA-Welt“ schwadronieren müssen, um die Kernaussage zu transportieren.
Footnotes:
- ↑ Dan Roam erklärt „auf der Serviette“. In Deutschland sind es eher Bierdeckel – wobei die deutlich häufiger bedruckt und damit unpraktischer sind als Servietten.
- ↑ Volatility, uncertainty, complexity and ambiguity.
- ↑ Aus Gründen der Optik hier übrigens Rotwein und nicht Bier. Auf einem echten Bierdeckel könnte man die Zukunft ggf. auch mit Bier verwischen und sich anschließend rühmen, Zufallstechniken für die Visualisierung eingesetzt zu haben.
- ↑ Vgl. <https://www.thediscworld.de/index.php/Hosenbeine_der_Zeit> (29.09.2019).
- ↑ In Pratchetts Metapher scheint sich mir übrigens wieder einmal unser abendländischer Hang zu Dualismen zu manifestieren.