Einer der Gründe, warum ich Whiteboard, Flipchart sowie Moderationswand und ‑karten meist gegenüber digitalen Werkzeugen bevorzugt habe, ist das Egalitäre daran: Die Hürde, diese Visualisierungswerkzeuge zu nutzen, ist extrem niedrig; praktisch jeder1 kann sich auch visuell in den Gruppenprozess einbringen. Mit der in Online-Meetings und Videokonferenzen fast schon zwangsläufig notwendigen Nutzung digitaler Visualisierungswerkzeuge geht m. E. oftmals viel dieser Einfachheit und Flexibilität verloren:
- Nutze ich herkömmliche Visualisierungsmethoden im Online-Meeting unter Verwendung einer zweiten Kamera (vgl. hier), beschränkt sich die aktive Nutzung – das eigentliche Schreiben und Zeichnen – auf denjenigen oder (in hybriden Szenarien, vgl. hier) diejenigen, die physisch vor dem Whiteboard oder Flipchart stehen. Sicherlich kann man „auf Zuruf“ der übrigen Teilnehmer beispielsweise Moderationskarten schreiben und anpinnen, aber die Situation ist dennoch ohne Zweifel anders, unflexibler und weniger spontan als bei der gemeinsamen Arbeit vor der Moderationswand – und es entsteht zwangsläufig ein Ungleichgewicht in Bezug auf die Beteiligungsmöglichkeiten der Teilnehmer, geradezu ein Machtgefälle, das womöglich sogar ausgenutzt wird.
- Kaum anders – wenn nicht gar noch deutlicher ausgeprägt – ist dieses Problem, wenn ich die Bildschirmfreigabe nutze, um vorhandene Software für die Moderation und die Visualisierung von Verlauf und Ergebnissen zu nutzen (vgl. hier): Wirklich bedienen kann diese Software i. d. R. nur ein Teilnehmer zur Zeit – und das selbst in hybriden Szenarien. Um ein digitales Kanban-Board, einen Projektplan oder ein Protokoll für alle sichtbar zu bearbeiten, mag dieses Szenario hilfreich sein – für visuell unterstützte Gruppenprozesse erscheint es mir eher ungeeignet.
- Selbst, wenn ich nun speziell für die Online-Moderation vorgesehene (und deswegen hoffentlich geeignetere) Software (s. u.) nutze, ergeben sich m. E. mindestens vier problematische Aspekte, denen ich Aufmerksamkeit widmen sollte:
- Auch wenn es mich immer wieder überrascht: Viele Menschen haben schon Probleme mit der Bedienung nur der bloßen Videokonferenz-Software. Eine weitere Software ins Meeting einzuführen, will also wohlüberlegt sein und sollte bei Bedarf mit einer Einweisung und Hilfe beim „Onboarding“ verbunden sein. Überschätzen Sie nicht die sog. „Digitalkompetenz“ der Teilnehmer – übrigens auch nicht im Kontext reiner IT-Organisationen. Nicht vergessen sollte man auch: Die Nutzung selbst und die jeweiligen Funktionalitäten dürften meist stark vom Endgerät (und womöglich gar vom verwendeten Web-Browser) des jeweiligen Teilnehmers abhängen. Deswegen gilt es, entweder klare und einfach erfüllbare technische Vorgaben zu machen oder auf die aus meist erheblicher technischer Diversität der Endgeräte resultierenden Probleme gefasst zu sein.
- „Echtes“ Visualisieren im Sinne von aus dem Stegreif entstehenden Zeichnungen ist digital m. E. nur mit Tablet und Stift möglich – eine Hardware-Ausstattung, die meist nur wenigen Teilnehmern zur Verfügung steht. Ich sollte also i. d. R. nicht damit rechnen, auf diese Weise mit der gesamten Gruppe arbeiten zu können – und auf das bereits erwähnte Ungleichgewicht in Bezug auf die Beteiligungsmöglichkeiten gefasst sein. Besser dürfte es in den meisten Fällen sein, sich auf mit Tastatur und Maus nutzbare Funktionalitäten zu beschränken – beispielsweise digitale Haftnotizen bzw. Moderationskarten: Beschriftet werden diese i. d. R. mittels der Tastatur, an ihren Ort geschoben mit der Maus. Auch vom Tablet aus ist eine Nutzung meist problemlos möglich. Die klassische Moderationswand kann also auch in „digitalisiert“ Gruppenprozesse unter Einbeziehung aller (weitgehend unabhängig vom Endgerät) unterstützen und ist damit sehr nah an dem eingangs erwähnten Egalitären, das ich an physischen Visualisierungswerkzeugen so schätze.
- Ein weiterer relevanter Punkt, in dem sich die Arbeitsplatzausstattung der Teilnehmer relevant unterscheiden kann, ist die Anzahl der Bildschirme: Habe ich nur einen Bildschirm oder arbeite ich z. B. am Tablet, kann ich meist nur entweder die Videokonferenz und damit die anderen Teilnehmer oder die Online-Moderations- bzw. ‑Visualisierungssoftware sehen. Teilnehmer mit zwei Bildschirmen hingegen können beides gleichzeitig sehen – m. E. ein deutlicher Mehrwert; dieses Szenario erscheint mir sehr viel besser die „die Gruppe steht gemeinsam vor der Moderationswand“-Situation abzubilden.
- Nicht vergessen sollte man bei Nutzung einer weiteren Software neben der eigentlichen Videokonferenzlösung die Themen Datenschutz und Datensicherheit: Alles, was ich in dieser Hinsicht bereits für die Online-Meeting-Software tun musste (und hoffentlich getan habe), muss ich auch für die Online-Moderations-Lösung tun – insbesondere, weil auch diese Software höchstwahrscheinlich extern in der Cloud läuft. In vielen Organisationen dürfte es deswegen am einfachsten sein, Lösungen desselben Anbieters zu wählen (also beispielsweise Microsoft Whiteboard mit Microsoft Teams) – oder eben doch auf zusätzliche Tools zu verzichten (vgl. „Online-Moderation ohne viele Tools“).
Spezielle Werkzeuge für die Online-Moderation gibt es inzwischen in großer Anzahl – und neue Lösungen aller Art scheinen mir situationsbedingt im Moment wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Zudem ändert sich der Funktionsumfang dieser meist cloud-basierten Lösungen sehr schnell – eine umfassende, womöglich gar Funktionalitäten vergleichende Auflistung dieser Tools zu erstellen, wäre dementsprechend eine echte Sisyphusarbeit. Dennoch könnte eine kurze, nur knapp kommentierte Auflistung der Werkzeuge, mit denen ich persönlich bereits des Öfteren gearbeitet habe, dem einen oder anderen beim Einstieg in das Thema helfen – wie erwähnt eine subjektive Auswahl und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit2:
Und etwas außerhalb dieser Reihe:
Footnotes:
- ↑ Zugegebenermaßen sind auch diese Werkzeuge nicht besonders inklusiv – aber das ist sicherlich eher einen eigenen Artikel wert und sollte m. E. hier nicht einfach nebenbei behandelt werden.
- ↑ Ergänzungen in den Kommentaren sind natürlich hochwillkommen!
- ↑ Ein schönes Video-Tutorial zu Miro von Sebastian Burkart (@SebastiansPTM) findet sich unter <https://www.youtube.com/watch?v=7iwdiB3VN7g>.
- ↑ Auch zu Conceptboard gibt es ein Video-Tutorial von Sebastian Burkart: <https://www.youtube.com/watch?v=fWVZ0xGcWs4>.
- ↑ Auch zu Mentimeter gibt es ein Video-Tutorial von Sebastian Burkart: <https://www.youtube.com/watch?v=INg7YGaPuoY>.