Der Begriff „Mindset“ bzw. „Mind-set“ scheint mir momentan in aller Munde zu sein – besonders in agilem Umfeld. Anders als in den USA, wo der Begriff vor allem auch im pädagogischen Bereich eine Rolle spielt1, ist er in Deutschland m. E. erstaunlich klar mir den Themen „Agilität“ und „New Work“ verbunden (Google Trends2).
Schaut man in einschlägige Lexika, wird „Mindset“ üblicherweise mit „Mentalität“, „Denkart“ oder auch „Haltung“ übersetzt3. Beobachtet man aber, wie der Anglizismus im Deutschen verwendet wird, scheint mir oft der zweite Teil des Kompositums bzw. seine Konnotation im Deutschen die Bedeutung zu bestimmen: Das „-set“ in „Mindset“ impliziert anscheinend für viele Menschen, es handele sich um ein „mentales ‚Set‘ “ von Eigenschaften oder Fähigkeiten, an dessen Zusammensetzung man mehr oder minder einfach Veränderungen vornehmen könne. Dabei ist das „-set“ im englischen „Mindset“ wohl weniger i S. von „der Zusammenstellung“ als i. S. von „das Festgesetzte“4 zu verstehen – andernfalls spräche man vermutlich auch eher von „Mindkit“. Die Übersetzungen „Mentalität“ oder „Haltung“ haben die „Set“- bzw. „Kit“-Konnotation nicht – und wirken auf mich deswegen in den meisten Kontexten viel richtiger als der unübersetzte Anglizismus.
Kurz: Spricht man statt von „Mindset“ von „Haltung“, wird deutlich, dass es sich eben nicht um ein aus Einzelteilen zusammengesetztes „Kit“ handelt, dem man ohne großen Aufwand nach Belieben Dinge hinzufügen oder aus dem man gar einfach Dinge entfernen könnte.
„Der Charakter des Menschen ist sein Schicksal.“
– Heraklit, Fragmente
Menschen ändern sich meiner Erfahrung nach nur langsam oder womöglich gar nicht – zumindest in Bezug auf ihre grundlegenden Eigenschaften und den diesen zugrundeliegenden Annahmen. Wenn überhaupt, dann findet Veränderung meist nur unter hohem (Leidens‑)Druck statt. Die eigenen das Verhalten und die Wahrnehmung prägenden Grundannahmen und Imperative in Frage zu stellen, ist meist schwierig und sehr häufig auch schmerzhaft.
Anzunehmen, „man müsse sich nur ändern“ oder gar „man müsse andere Menschen nur ändern“, um dem „Mindset“ beispielsweise „Agilität“ hinzuzufügen, quasi ein Update auf „Mindset 4.0“ vorzunehmen, erscheint mir dementsprechend sehr gewagt – und ist dennoch gerade bei Anhängern von METHODEN (im Gegensatz zu „Methoden“) erstaunlich verbreitet.
Warum aber erlebt man erstaunlich häufig dennoch vergleichsweise schnelle Entwicklungen und Veränderungen, warum sind beispielsweise im Rahmen von Organisationsentwicklung doch in erstaunlich kurzen Zeiträumen Verhaltensänderungen (leider manchmal allerdings nicht im Sinne des Entwicklers) zu beobachten?
„Die Umgebung, in der der Mensch sich den größten Teil des Tages aufhält, bestimmt seinen Charakter.“
– Antiphon von Rhamnus, Fragmente
Was auf den ersten Blick wie eine Änderung des Mindsets aussieht, ist möglicherweise oftmals doch nur eine einfache Verschiebung: Die Menschen zeigen in verändertem Umfeld womöglich einfach nur andere Seiten ihres ansonsten recht festen Charakters. Ich bin der festen Überzeugung: Fast alle Menschen wären zumindest willens und konstruktiv wenn nicht gar auch handlungskompetent, böte sich ihnen ein (jeweils) geeignetes Umfeld. Was ich also von Menschen erwarten kann und sollte, ist m. E. weniger die Anpassung des Mindsets an veränderte Anforderungen als vielmehr das Darauf-Einlassen und das möglichst bereitwillige Suchen nach der jeweils geeignetsten Seite des Selbst. Dass sich Menschen dann darauf aufbauend (oder auch unabhängig davon) tatsächlich langsam anpassen (lies: verändern), ist sicherlich durchaus der Fall – darauf bauen sollte man aber zumindest am Anfang des Prozesses wohl besser nicht.
Das Umfeld erscheint mir also viel wichtiger als das Mindset, das sich eben auch nicht trivial in seinen (eben nicht „-set-“)Bestandteilen ändern lässt. Umso fataler erscheint mir die häufig von mir wahrgenommene Überbetonung des Mindset-Aspekts und die ebenso häufige Ablehnung von Führung in Teilen der agilen Community5: Ist in Wirklichkeit das Umfeld entscheidend, ist dessen Gestaltung die wichtigste Aufgabe – und das ist m. E. einer der ganz wesentlichen Inhalte von Führung. Das wichtigste Mindset ist also vermutlich eher das der Führungskraft als das der Mitarbeiter. Kurz: Haltung und Menschenbild sind entscheidend – übrigens im Zusammenhang mit Agilität kürzlich sehr schön dargestellt von Marcus Raitner6.
Anzunehmen, man bräuchte nur die „richtigen“ Menschen mit dem „richtigen“ Mindset (und keine anderen, keine mit dem „falschem“ Mindset), erscheint mir wenig realistisch, kaum operationalisierbar (und wenig wertschätzend). Das gegebene Mindset eines Menschen für per se ungeeignet zu halten, ist eine geradezu paradoxe Haltung, zeugt sie doch eher von einem „fixed mindset“ (i. S. von Carol Dweck) als von einem „growth mindset“.
Es scheint mir also weniger darum zu gehen, Menschen „abzuholen, wo sie stehen“ und dann zu ändern, sondern vielmehr darum, sie „so zu nehmen, wie sie sind“ und dann ein Umfeld zu gestalten, in dem sich jeder Einzelne jeweils maximal entfalten kann – und genau das auch einzufordern. Das wiederum ist m. E. eine klassische Führungsaufgabe – egal, ob das Umfeld agil ist oder nicht! Das Mindset aber gar alleinig in den Vordergrund zu stellen, heißt keineswegs, den Menschen in den Vordergrund zu stellen – im Gegenteil: Die Überbetonung dieses Aspekts verlagert die Verantwortung in geradezu unfairer Weise auf den Einzelnen.
Footnotes:
- ↑ Vgl. bspw. <https://en.wikipedia.org/wiki/Mindset#Fixed_and_Growth_Mindset> (03.05.2019).
- ↑ Ja, ich weiß: Korrelation ist keine Kausalität. Google Trends soll hier eher so etwas wie Zeitgeist illustrieren.
- ↑ Vgl. bspw. https://www.dict.cc/?s=mindset (03.05.2019), https://dict.leo.org/englisch-deutsch/mindset (03.05.2019) und https://de.pons.com/übersetzung/englisch-deutsch/mindset(03.05.2019).
- ↑ Also eher als Substantivierung des Verbes „to set“.
- ↑ Zu erleben bspw. In Diskussionen im Rahmen diverser einschlägiger Agile (Bar‑)Camps.
- ↑ <https://fuehrung-erfahren.de/2019/05/agilitaet-beginnt-beim-menschenbild/> (05.05.2019).