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Meine sechs „Dimensionen“ des (Aufwands‑)Schätzens

Tim Themann

Manch­mal ist gera­de das Durch­ein­an­der inspi­rie­rend, weil es mich zum Sor­tie­ren ani­miert – so erleb­te ich es kürz­lich auf dem (übri­gens in jeder Hin­sicht inspi­rie­ren­den!) PM Camp Berlin1 beim Dis­ku­tie­ren über Aufwandsschätzungen.

Ob agil oder nicht – solan­ge man nicht zufäl­lig Anhän­ger der #noEstimates-„Bewegung“​2 ist, kommt man über kurz oder lang in die Situa­ti­on, (Projekt‑)​Aufwände schät­zen zu müs­sen. Ansät­ze und Metho­den dafür gibt es zuhauf, in vie­len Dis­kus­sio­nen schei­nen mir aber die Dimen­sio­nen des The­mas wild durch­ein­an­der gewor­fen zu wer­den – mei­ne ganz per­sön­li­che „Sor­tie­rung“ die­ses „Kud­del­mud­dels“ möch­te ich hier darstellen:

Die Methode: Wie schätze ich?

Vor­ge­hens­wei­sen zur Auf­wands­schät­zung gibt es wie erwähnt zuhauf, und die Dis­kus­si­on dar­über, wel­che denn nun „die eine bes­te“™ Metho­de ist, nimmt m. E. oft­mals gera­de­zu dog­ma­ti­sche Züge an​3. Oft­mals ver­lau­fen die Grä­ben hier ganz grund­sätz­lich zwi­schen Anhän­gern agi­ler und sol­chen der „klas­si­schen“ Metho­den – und bei­spiels­wei­se einen lang­jäh­ri­gen COCOMO-Nut­zer von den Vor­tei­len des Plan­ning Pokers zu über­zeu­gen, dürf­te eben­so schwie­rig sein wie der umge­kehr­te Fall. An die­ser Dis­kus­si­on möch­te ich mich hier nicht betei­li­gen – sicher ist: Die Wahl der Schätz­me­tho­de bzw. des Vor­ge­hens ist eine (aber eben auch nur eine und genau eine) Dimen­si­on des Themas.

Die Größe: Was schätze ich?

Bevor ich schät­ze, muss ich Klar­heit dar­über haben, wel­che Grö­ße ich eigent­lich schät­ze. Im Moment scheint es mir hier zwei übli­che Ansät­ze zu geben: Ich kann einer­seits „klas­sisch“ den Auf­wand i. S. von Zeit (Arbeit oder Dau­er – auch das ist natür­lich ein Unter­schied!) oder von Geld zu schät­zen ver­su­chen, ande­rer­seits kann ich ver­su­chen, die Kom­ple­xi­tät bei­spiels­wei­se in Form von Sto­ry Points oder Func­tion Points zu schät­zen – gera­de in agi­lem Umfeld ein ver­brei­te­ter Ansatz. Die „Faust­re­gel“ scheint mir an die­ser Stel­le zu sein: Muss ich Ter­mi­ne oder Kos­ten mög­lichst exakt ken­nen (bspw. für die Erstel­lung eines ver­bind­li­chen [Festpreis-]Angebots), muss ich auch genau die­se Grö­ße schät­zen. Möch­te ich hin­ge­gen die (hof­fent­lich) stei­gen­de Velo­ci­ty4 eines agil arbei­ten­den Teams mes­sen kön­nen, schät­ze ich Kom­ple­xi­tät und mes­se die Zeit ledig­lich ex post. 

Update 24.09.2018: Lars Rich­ter weist in sei­nem sehr lesens­wer­ten Arti­kel „Mes­sen Sto­ry Points eigent­lich Auf­wand oder Komplexität?“5 völ­lig zu Recht dar­auf hin, dass mir (wohl in dem Ver­such, einen poin­tier­ten Gegen­satz zu „Zeit“ aus­zu­drü­cken) durch die Reduk­ti­on des „agi­len Schät­zens“ auf „Kom­ple­xi­tät“ eine grob ver­fäl­schen­de Ver­ein­fa­chung unter­lau­fen ist: Es ist in der Tat so, dass Kom­ple­xi­tät nur ein Aspekt der Schät­zung ist, geschätzt wird eine gene­ri­sche „Grö­ße“ („size“6) – und auch die bezieht sich natür­lich auf den Auf­wand, der ja Gegen­stand die­ses Arti­kels ist.

Das/​die Intervall(e)

Gera­de beim Schät­zen des Auf­wands ist es nicht unüb­lich, anstel­le einer ein­zel­nen (Schätz‑)​Zahl ein Inter­vall zu schät­zen – also bei­spiels­wei­se Mini­mum und Maxi­mum oder Mini­mum, „wahr­schein­lichs­ter Wert“ und Maxi­mum​7. Die Defi­ni­ti­on des Mini­mums ist dabei meist recht klar​8, anders die des Maxi­mums: Muss man bei der Schät­zung des Maxi­mums auch unwahr­schein­li­che Ereig­nis­se wie Meteo­ri­ten­ein­schlä­ge berück­sich­ti­gen? Möch­te man ein Maxi­mum schät­zen, möch­te man also schät­zen, wie lan­ge etwas „schlimms­ten­falls“ dau­ert, soll­te man vor­her sehr genau defi­nie­ren, was „schlimms­ten­falls“ bedeutet.

Eben­falls fest­le­gen soll­te man m. E., wel­che die­ser Wer­te wie wei­ter­ge­ge­ben wer­den sol­len: Nicht immer ist es sinn­voll, die geschätz­ten Inter­val­le kom­plett an (inter­ne oder exter­ne) Kun­den zu kom­mu­ni­zie­ren – das Mini­mum kann ohne beglei­ten­de Erläu­te­run­gen eben­so einen fal­schen oder gar ver­hee­ren­den Ein­druck ent­ste­hen las­sen wie die Sum­me der Maxima.

Schätzt man Mini­mum und Maxi­mum, erscheint mir übri­gens das Ein­pla­nen von Puf­fern unlo­gisch und sinnlos.

Die Genauigkeit

Schät­ze ich bei­spiels­wei­se Zeit, kann ich das in Stun­den, (Personen‑)​Tagen oder gar Wochen oder Mona­ten tun – eine m. E. sehr wich­ti­ge Ent­schei­dung. Zwar könn­te man ein­wen­den, dass acht Stun­den ein Per­so­nen­tag sind und die­se Ein­hei­ten ver­lust­frei inein­an­der umre­chen­bar sind, aber den­noch ist die­se Fra­ge wich­tig: Prak­tisch nie­mand, der um eine Schät­zung gebe­ten wird, schätzt „0,125 Tage“ oder „3,625 Wochen“. Eben­so wird kaum jemand sei­ne Schät­zung abrun­den, son­dern eher grund­sätz­lich mehr oder min­der groß­zü­gig aufrun­den – und auf die­se Wei­se womög­lich unab­sicht­lich (oder gar beab­sich­tigt) einen zusätz­li­chen Puf­fer schaf­fen. Je grö­ßer mei­ne Ein­heit ist, des­to stär­ker kommt dies zum Tra­gen – und je klei­ner mei­ne Gra­nu­la­ri­tät ist (s. u.), des­to öfter. Dem­entspre­chend erscheint es mir sinn­voll, die ver­wen­de­te Ein­heit in einem ange­mes­se­nen Ver­hält­nis zur erfah­rungs­ge­mäß mög­li­chen Genau­ig­keit der Schät­zung zu wäh­len – und im Zwei­fel eher fei­ner als gröber.

Die Granularität

Etwas (in die­sem Fall: ein Pro­jekt) in klei­ne­re Tei­le zu zer­le­gen, die­se dann zu schät­zen und anschlie­ßend die Sum­me zu bil­den, ist ein nahe­lie­gen­des (ana­ly­ti­sches) Vor­ge­hen. Prak­tisch habe ich aller­dings beob­ach­tet: Je fei­ner man ein Pro­jekt in Teil­auf­ga­ben und Arbeits­pa­ke­te (oder Epi­cs, User Sto­ries o. ä.) zer­glie­dert, des­to grö­ßer wird häu­fig die Sum­me, der geschätz­te Gesamt­auf­wand: Auf­run­dun­gen (s. o.) und (bewusst oder unbe­wusst hin­zu­ge­füg­te) Puf­fer addie­ren sich. Es emp­fiehlt sich also, die Dekom­po­si­ti­on an die­ser Stel­le mög­lichst nicht wei­ter zu trei­ben, als für die Schät­zung not­wen­dig ist.

Die Skala

Schät­ze ich Auf­wän­de, tue ich das sinn­vol­ler­wei­se meist auf Basis einer linea­ren Kar­di­nal- oder Inver­vall­ska­la. Schät­ze ich aber Kom­ple­xi­tät, ist es durch­aus üblich, dies auf Basis von Ordi­nal­ska­len zu tun – bei­spiels­wei­se mit der Meta­pher der T‑Shirt-Grö­ßen (S/​M/​L/​XL) oder auch (z. B. häu­fig beim „Plan­ning Poker“) Sto­ry Points auf einer auf die Fibo­nac­ci-Fol­ge o. ä. basie­ren­de Ska­la. Ver­wen­det man die­se Ska­len, soll­te man nicht ver­ges­sen: Die „Abstän­de“ zwi­schen den Wer­ten sind nicht wirk­lich scharf defi­niert (der quan­ti­ta­ti­ve Unter­schied zwi­schen „S“ und „M“ kann ein ande­rer sein als zwi­schen „M“ und „L“) – und Wer­te einer Ordi­nal­ska­la mögen jeweils für sich mit spe­zi­fi­schen Wer­ten auf einer Kar­di­nal­ska­la kor­re­spon­die­ren, es gibt aber i. d. R. kei­ne „Umre­chen­for­mel“. Noch weni­ger lässt sich übri­gens Kom­ple­xi­tät direkt in Zeit umrech­nen – das wäre, als wür­de man beim Rei­sen Kilo­me­ter in Stun­den umrech­nen wol­len, ohne die Geschwin­dig­keit des jewei­li­gen Fahr­zeugs zu kennen.

Lege ich ein Vor­ge­hen für eine (Aufwands‑)​Schätzung fest, soll­te ich m. E. in allen sechs Dimen­sio­nen eine Ent­schei­dung tref­fen, nicht nur über die Metho­de selbst – und je genau­er ich dar­über nach­den­ke, des­to mehr beschleicht mich der Ver­dacht: Die Metho­de – das Vor­ge­hen – ist erstaun­lich unwich­tig; die ande­ren fünf Dimen­sio­nen des The­mas haben häu­fig einen grö­ße­ren Ein­fluss auf die Vali­di­tät der Schät­zung als die „hart umkämpf­te“ Fra­ge nach der Wahl der Methode.

Fuß­no­ten:

  1.  Vgl. <https://​www​.openpm​.info/​d​i​s​p​l​a​y​/​o​p​e​n​P​M​/​P​M​+​C​a​m​p​+​B​e​r​l​i​n​+​2​0​1​8​+​-​+​S​e​s​s​i​o​n​d​o​k​umentation> (08.09.2018).
  2.  Vgl. bspw. <http://​zuill​.us/​W​o​o​d​y​Z​u​i​l​l​/​b​e​y​o​n​d​-​estimates/> (08.09.2018).
  3.  Im eng­lisch­spra­chi­gen Wiki­pe­dia-Arti­kel zu Auf­wands­schät­zun­gen bei der Soft­ware­ent­wick­lung fin­det sich eine recht umfang­rei­che Liste.
  4.  Also eigent­lich die Beschleunigung.
  5.  <https://​flow​work​.rocks/​s​t​o​r​y​-​p​o​i​n​t​s​-​a​u​f​w​a​n​d​-​o​d​e​r​-​k​o​m​plexitaet/> (24.09.2018).
  6.  Vgl. Cohn, Mike: Agi­le Esti­mat­ing and Plan­ning. Upper Sadd­le River, NJ: Pren­ti­ce Hall Pro­fes­sio­nal Tech­ni­cal Refe­rence 2006. S. 35 ff.
  7.  Bspw. im Fal­le von PERT.
  8.  Kar­tof­fel­pü­ree her­zu­stel­len, dau­ert min­des­tens so lan­ge, wie die Kar­tof­feln kochen müs­sen. Trans­por­te sind nach der­zei­ti­gem Kennt­nis­stand min­des­tens durch die Licht­ge­schwin­dig­keit begrenzt.
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