Der Begriff „Sketchnotes“ ist vermutlich einer der Neologismen mit der rasantesten Entwicklung (vgl. Google Trends) – allerdings in der Tiefe1 und in der Breite: Inzwischen scheint mir alles, was einigermaßen visuell und nicht großformatig ist, als „Sketchnote“ bezeichnet zu werden. Das halte ich für ein Problem.
Betrachtet man die Genese des Begriffs – ein Kompositum aus „[to] sketch“ („zeichnen“) und „notes“ („Notizen“) –, so ging es ursprünglich darum, „klassische“ Mitschriften von Vorträgen o. ä. durch etwas Visuelleres zu ersetzten, das (so die Theorie) beim Verfertigen mehr Spaß mache und sich im Ergebnis leichter merken lasse2. Ich selbst schreibe meist einfach mit – und das sehr viel –, aber ich kann in der Tat beobachten, dass Sketchnotes offenbar für viele Menschen beim Verarbeiten des Gehörten hilfreich sind; auch ohne hinreichende empirische Absicherung erscheint mir der Ansatz auf den ersten Blick vielversprechend.
Etwas erstaunen (aber auch erfreuen) tut mich, wie „virulent“ das Visuelle geworden ist: Erst mal mit dem „Visualisierungs-Virus“ infiziert, nutzen viele Menschen das Zeichnerische in allen möglichen Zusammenhängen – und das oft jeweils für sich sehr erfolgreich. Ganz nebenbei vereinfacht mir diese Entwicklung auch noch meine Arbeit: Ich muss viel weniger erklären und es wird viel weniger „komisch geguckt“, wenn ich im Meeting-Raum als Allererstes das Flipchart kapere und zu zeichnen beginne.
Problematisch an dieser Entwicklung finde ich allerdings eines: Alles ist auf einmal eine „Sketchnote“. Egal, ob ein Kochrezept, die Arbeitsblätter für den Unterricht, Reisepläne, gute Vorsätze fürs neue Jahr oder einfach eine Illustration – all dies wird inzwischen häufig einfach nur als „Sketchnote“ bezeichnet. Nun habe ich überhaupt nichts dagegen, Kochrezepte oder Arbeitsblätter visueller zu gestalten – im Gegenteil. Es sind nur keine „Notes“ im engeren Sinne, also auch keine „Sketchnotes“ – und das halte ich für wichtig. Wichtig nicht (nur), weil mir exakte Nomenklatur wichtig ist und ich (so sagt man) gern mal oberlehrerhaft bin, wichtig vor allem, weil Sprache das Denken beeinflusst3.
Nenne ich das Rezept nicht mehr Rezept und das Arbeitsblatt nicht mehr Arbeitsblatt, sondern alles nur noch „Sketchnote“, geht etwas verloren: Es wird alles in einen Topf geworfen und es fehlt in der direkten Folge an einer spezifischen, am Ziel des Dokuments orientierten Bezeichnung. Alles unter „Sketchnotes“ zu subsumieren, verlagert m. E. den sprachlichen Schwerpunkt und damit in gewissem Umfang auch das Denken von der konkret-inhaltlichen Kategorie (dem Rezept/Arbeitsblatt/…) zur Form (dem „Sketch“).
Eine Überbetonung der Form hat meiner Erfahrung nach noch keinem Inhalt gutgetan.
Dazu kommt: Niemand würde sein mühsam erarbeitetes Arbeitsblatt als „Notiz“ bezeichnen, niemand vom geliebten Kochrezept der Urgroßmutter nur einfach als „Notiz“ sprechen. In beiden Fällen wirkt „Notiz“ bei genauerer Betrachtung geradezu entwertend – denn es handelt sich um etwas anderes, etwas Konkreteres.
Diese semantische Beliebigkeit hat m. E. allerdings auch noch eine andere Folge: Der Begriff „Sketchnotes“ wird durch inflationäre Verwendung seines eigentlichen und ursprünglichen Inhalts beraubt – etwas, das meiner Überzeugung nach der ursprünglichen Idee des „anders Notierens“ als neue Technik der geistigen Arbeit nicht guttun kann.
Unterschiedliche Begriffe für Unterschiedliches zu verwenden, betont den Unterschied – und das ist in diesem Fall richtig und wichtig, denn es ist die Unterschiedlichkeit des Inhalts, die relevant ist, nicht die Ähnlichkeit der (visuellen) Form.
Warum nicht einfach nur Sketchnotes „Sketchnotes“ nennen und die Idee des visuelleren Notierens unter dieser Bezeichnung verbreiten? Und warum nicht Illustrationen „Illustrationen“ nennen, visuelle Rezepte „visuelle Rezepte“, einen visuellen Lebenslauf einen „visuellen Lebenslauf“ und vielleicht ein visuell gestaltetes Arbeitsblatt einfach „Arbeitsblatt“? Das Visuelle, das „dual coding“ sollte in diesem wie in vielen anderen Fällen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein (vgl. hier) – aber es erschafft nicht automatisch eine neue inhaltliche Kategorie.
Footnotes:
- ↑ Im Sinne hoher Prävalenz.
- ↑ Vgl. Rohde, Mike: Das Sketchnote-Handbuch. Der illustrierte Leitfaden zum Erstellen visueller Notizen. Heidelberg: mitp 2014, aber auch den deutschsprachigen Wikipedia-Artikel oder z. B. <http://sketchnotes.de> (07.03.2018).
- ↑ Die sog. Sapir-Whorf-Hypothese.