In vielen Organisationen werden virtuelle Meetings aus Datenschutz- oder Sicherheitsgründen auf die reine Videokonferenz beschränkt. Wirksame Online-Moderation geht aber auch ohne viele Tools!
Welches (naturgemäß im Moment virtuelle) BarCamp oder PMCamp ich in diesem Jahr auch „besuchte“: Es gab praktisch immer eine Session zum Thema „virtuelle Moderation“ – und fast immer teilten sich die Teilnehmer in zwei Gruppen auf: Die eine Gruppe probierte begeistert unterschiedlichste Werkzeuge zur Online-Moderation1 (die meist auch bei der Camp-Organisation zum Einsatz kamen) aus – und die andere Gruppe berichtete, sie würden aus mehr oder minder nachvollziehbaren Datenschutz- oder Sicherheitsgründen auf fast alles verzichten müssen, seien technisch auf die reine Videokonferenz beschränkt. Wir sind in Deutschland; die einzig sinnvolle Reaktion an dieser Stelle scheint also zu sein, mehr oder minder fundiert wahlweise über den Stand der „Digitalisierung“ oder den Datenschutz zu philosophieren – und natürlich darüber zu lamentieren, was man nicht hat. Man könnte aber auch darauf schauen, was man hat: Kamera, Chat und Bildschirmfreigabe – und damit geht schon eine ganze Menge!
Kamera
In einer Videokonferenz hat man eine Kamera – auch, wenn sich das meist bei zumindest einigen Meeting-Teilnehmern noch nicht herumgesprochen zu haben scheint und man oftmals nur auf die das abgeschaltete Kamerabild ersetzenden Avatare schaut. Allein schon mit einer Kamera lässt sich viel anfangen – hier nur einige Beispiele:
- Visualisieren: Im einfachsten Fall richtet man die Kamera auf ein Flipchart oder Whiteboard. Auch wenn es mich persönlich wundert: Die meisten Menschen haben kein Flipchart zu Hause. Für das Home Office oder mobiles Arbeiten empfehlen sich stattdessen Lösungen wie das Magic-Chart; vergleichbare Lösungen existieren auch als provisorisches Whiteboard. Arbeitet man zu diesem Zweck mit zwei verschiedenen Kameras am Endgerät, empfiehlt es sich, das Umschalten vorab zu testen und zu üben.
- In aller Regel ist es nicht verboten oder technisch unmöglich, mit mehreren Geräten gleichzeitig im virtuellen Meeting zu sein. Denkbar und hilfreich ist es, z. B. das Mobiltelefon (tunlichst mit abgeschaltetem Mikrofon!) als zusätzlichen stummen Teilnehmer in die Videokonferenz zu nehmen und auf diese Weise eine zweite Kamera zur Verfügung zu haben. Ein Fotostativ und eine Stativhalterung für das Handy ermöglichen eine sinnvolle Ausrichtung auf Whiteboard oder Flipchart. Möchte man stattdessen am Schreibtisch sitzend visualisieren, leisten bis etwa zum Format A3 (eventuell sogar A2) ein Reprostativ für die Kamera oder gar eine Dokumentenkamera bzw. ein Visualizer gute Dienste; alternativ dazu habe ich für dieses Szenario in den letzten Monaten allerlei Eigenbauten gesehen. Ich persönlich verwende gern ein Mikrofonstativ in Verbindung mit einer Halterung für das Mobiltelefon und einem entsprechenden Gewindeadapter2:
- Zu bedenken ist auf jeden Fall: Ein physisches Flipchart oder Whiteboard steht nur jeweils einem Teilnehmer zur Verfügung, Zusammenarbeit ist nur „auf Zuruf“ möglich – aber so viel anders werden diese Visualisierungsmittel in vielen physischen Besprechungen meiner Erfahrung nach leider auch nicht genutzt; das Egalitäre dieser Medien entfaltet nur selten und meist nur auf direkte Aufforderung durch den Moderator wirklich seine Wirkung. Von hybriden Meetings, in denen ein Teil der Teilnehmer physisch vor Ort ist und die physischen Medien nutzen kann, ein anderer Teil aber nur virtuell anwesend und von der Nutzung dieser Medien abgeschnitten ist, würde ich aufgrund der unvermeidbaren Asymmetrie übrigens abraten (vgl. hier).
- Abstimmen, Konsensieren u. v. m.: Jedwede Form von nicht-geheimer Abstimmung lässt sich über die Kameras der Teilnehmer problemlos realisieren – unter Verwendung farbiger Karten o. Ä. sogar in sehr großen Meetings. Stimmt man sowieso offen ab, erscheinen mir diskursivere Verfahren wie das systemische Konsensieren3 oder die verschiedenen Varianten von [Planning] Poker zielführender; die fehlende Geheimhaltung wird in diesem Fall durch die (hoffentlich konstruktiv-wertschätzende) Diskussion mehr als aufgewogen.
Dass man für diese Nutzungsform der Kamera zumindest in großen Videokonferenzen Karten braucht, die in die Kamera gehalten werden, erscheint mir nicht besonders problematisch: Selbst, wenn man nicht vorab vorbereitete Karten verschicken konnte, lassen sich die meisten Karten spontan von den Teilnehmern produzieren (z. B. Zettel mit Ziffern, T‑Shirt-Größen o. Ä.) – und nutzt man solche Methoden sowieso schon, dürften Karten bereits bereitliegen.
- Bereitet man Karten für Abstimmungen in den „Ampelfarben“ vor, würde ich übrigens auf jeden Fall eine weiße Karte ergänzen – „Gelb“ ist einfach nicht „Enthaltung“. Genau genommen hat Gelb in Bezug auf geschlossene Fragen keine sinnvolle Semantik (vgl. hier); lediglich im Falle des Konsensierens erscheint mir Gelb in seiner Bedeutung einigermaßen intuitiv klar zu sein. Hält man Karten in allen bei der in Videokonferenzen ja nicht immer optimalen Beleuchtungssituation wirklich distinktiven Farben (also zumindest zusätzlich noch Blau) bereit, sind auch Fragestellungen mit mehreren Antwortmöglichkeiten optisch beeindruckend und gut auszählbar umsetzbar – und ein wenig farbiges Tonpapier ggf. zuzuschneiden und per Post vorab zu verschicken, ist vergleichsweise unaufwändig.
Chat
Ist die Kamera oft ungeliebt und abgeschaltet, wird der Chat meist ganz vergessen – oder allerhöchstens als Kanal für Zwischenfragen oder quasi auf der Metaebene für Diskussionen über die Tonqualität genutzt. Dabei ist der Chat ein wunderbares Moderationswerkzeug: Praktisch alles, was man sonst durch Kartenabfragen o. Ä. sammeln würde, lässt sich auch über den Chat sammeln. Vermutlich am einfachsten funktioniert das mit einem „Chat Storm“: Der Moderator fordert die Teilnehmer auf, ihre Idee bzw. ihren Beitrag in das Chat-Fenster zu tippen, aber noch nicht abzusenden. Nach einer der Fragestellung angepassten Zeit senden dann alle Workshop-Teilnehmer ihre Beiträge gleichzeitig in den Chat. Das „Noch-nicht-senden“ muss bei diesem Vorgehen sehr deutlich kommuniziert werden, zumindest beim ersten Versuch senden erfahrungsgemäß viele Teilnehmer ihre Nachrichten aus Versehen sofort ab – sei es reflexhaft oder aufgrund von Fehlbedienungen. Dementsprechend empfiehlt sich bei wichtigen Fragestellungen sicherlich eine Übungsrunde vorab. Auch wenn es zuerst so aussieht, ist diese Methode prinzipiell übrigens nicht auf einen Beitrag pro Teilnehmer beschränkt: In der einen Nachricht eines Teilnehmers können natürlich auch mehrere Stichpunkte enthalten sein. Im Vergleich zum „klassischen“ Brainstorming sehe ich bei diesem Vorgehen zwei Unterschiede, die durchaus ihre Vorteile haben können: Die Beiträge bleiben bis zum Abschluss der Sammlungsphase wirklich unkommentiert und werden vor dem Abschluss der Sammlungsphase von der Gruppe ganz sicher gar nicht wahrgenommen. Alternativ zum gleichzeitigen Absenden kann man den Chat natürlich auch für eine kontinuierliche Sammlungsphase nutzen.
Im Anschluss an die Sammlungsphase (den „Chat Storm“) können alle Beiträge aus dem Chat exportiert bzw. kopiert und am freigegebenen Bildschirm des Moderators weiterverarbeitet werden (s. u.). Muss man dazu Datum/Uhrzeit und Teilnehmernamen entfernen, hilft es meist, den Chat-Inhalt z. B. in Microsoft Excel über „Text in Spalten“ als Tabelle zu formatieren (oder den Chat falls möglich gleich als CSV zu exportieren) und anschließend die Spalten mit diesen Metadaten zu entfernen. Alternativ dazu hilft hier dem geneigten ITler sicherlich auch „Suchen und Ersetzen“ unter Verwendung regulärer Ausdrücke. Beides sollte sicherlich mit der jeweiligen Videokonferenz-Lösung vorbereitet und getestet werden.
Wenn auch die hier genannten Ideen vielleicht noch nicht die allerkreativsten sind und eher nur versuchen, bekannte Methoden ins Virtuelle zu übersetzten: Der Chat eröffnet wirklich interessante Möglichkeiten für die Online-Moderation und sollte nicht übersehen werden!
Bildschirmfreigabe
Die Bildschirmfreigabe wird in den meisten Meetings nur genutzt, um mehr oder minder erhellende PowerPoint-Folien zu zeigen4 – dabei ist sie eines der flexibelsten Werkzeuge für die Online-Moderation, denn sie eröffnet (trotz aller Datenschutz- oder Sicherheitsvorgaben) ein Fenster zu allem, was einem auf dem eigenen Endgerät sowieso zur Verfügung steht. In aller Regel sind dies zumindest die Office-Produkte und meist auch noch eine Mindmapping-Lösung5 o. Ä. – ein mit ein wenig Kreativität erstaunlich gut gefüllter Werkzeugkasten für die Moderation virtueller Meetings. Einige Beispiele – die Aufzählung ist ganz sicher unvollständig:
- Dokumentiert man normalerweise die Besprechung für alle sichtbar am Flipchart (gerade in Verbindung mit einem Fotoprotokoll ein m. E. häufig sinnvolles Vorgehen), kann man das im Virtuellen problemlos stattdessen z. B. mit Microsoft Word oder OneNote tun. Ähnlich wie bei einer PowerPoint-Präsentation sollte man dabei auf eine ausreichend große Schrift achten: Am Bildschirm der anderen Teilnehmer wird der eigene Bildschirm meist deutlich verkleinert gezeigt, um Platz für die Videobilder der anderen Teilnehmer, den Chat etc. zu gewinnen – und der eine oder andere nimmt an der Videokonferenz vielleicht auch mit einem sehr kleinen Bildschirm oder gar einem Mobiltelefon teil. Es empfiehlt sich also, sich frühzeitig zu vergewissern, dass alle Teilnehmer den Text gut lesen können.
- Auch PowerPoint ist übrigens nicht zwangsläufig „read only“: Eine Präsentation nicht im Präsentations-Modus zu zeigen, sondern während des Meetings für alle sichtbar zu bearbeiten, um die Inhalte zu dokumentieren, kann durchaus sinnvoll sein. Im einfachsten Fall besteht so eine „Präsentation“ aus Titel- und Agendafolie und darauffolgenden weitgehend leeren Folien, in denen lediglich die Überschrift anhand der Agendapunkte ausgefüllt wurde. Die Dokumentation zu den Tagesordnungspunkten erfolgt dann auf der jeweiligen Folie. Unter normalen Umständen würde ich das für überflüssige und störende Dekoration halten, aber im Kontext dieser für viele noch ungewohnten (virtuellen) Umgebung ist es vielleicht hilfreich: Hier eine Vorlage, die zumindest ein wenig wie ein Flipchart anmutet. Für die Verwendung der Vorlage ist es erforderlich, den Neuland-Font 2017 zu installieren.
- PowerPoint kann auch recht gut als Moderationswand dienen, auf die virtuelle Haftnotizen quasi „geklebt“ werden – z. B. die Ergebnisse eines „Chat Storms“ (s. o.) lassen sich so weitestgehend in altbekannter Weise weiterverarbeiten.
- Ist die Struktur des Workshops bereits ex ante hart fixiert (z. B. häufig im Falle von Audits), kann man diese auch formularhaft-tabellarisch in Excel anlegen und sich die relevanten Antworten dokumentierend durch die Tabelle arbeiten – ein Vorgehen, das ich auch im Physischen durchaus als sinnvoll erlebt und auch schon selbst praktiziert habe.
- Ähnlich formularhaft sind Canvases – und auch, wenn ich damit so meine Probleme habe (vgl. hier): Ein Canvas lässt sich am freigegebenen Bildschirm gut gemeinsam bearbeiten.
- Auch das Mindmapping gehört nicht zu meinen Lieblings-Techniken (vgl. hier) – ist aber z. B. für das Clustern von Sammlungsergebnissen aus dem Chat (s. o.) am freigegebenen Bildschirm eine der geeigneteren Methoden. Viele Mindmapping-Lösungen ermöglichen es, mehrere neue Äste gleichzeitig einzufügen, wenn diese zeilenweise in der Zwischenablage gespeichert sind. Auf diese Weise lässt sich also der Chat-Inhalt einfach in eine Mindmap überführen und anschließend clustern bzw. sortieren.
Weniger praktisch finde ich persönlich übrigens die meisten Whiteboard-Apps: Ohne Stift und Tablet habe ich (trotz Touchscreen) ein großes Problem mit der Haptik – und Stift und Tablet sprengen definitiv den minimalistischen Rahmen dieses Artikels.
Nicht vergessen sollte man: Die Bildschirmfreigabe ermöglicht meist auch, die Kontrolle über Tastatur und Maus an einen anderen Teilnehmer zu übergeben. Auch diese Funktionalität eröffnet – angefangen bei einer arbeitsteiligen Co-Moderation – viele Möglichkeiten.
In jedem dieser Fälle empfiehlt es sich, möglichst viele dafür überflüssige GUI-Elemente („Ribbon“, Sprechernotizen etc.) entweder auszublenden oder zu verkleinern – der Bildschirm ist vor allem für die Inhalte!
Breakout Rooms
Breakout Rooms gehören leider nicht wirklich in diese Aufzählung: Viele Lösungen bieten diese Möglichkeit nicht. Gibt es sie aber, ermöglicht sie ein breites Spektrum an Arbeitsgruppen-Formaten. Zu beachten ist dabei m. E., dass Gruppenarbeit nicht in jedem Umfeld wirklich geliebt ist – und dass das extrem harte, an „Beamen“ erinnernde virtuelle Verschieben der Teilnehmer in die Gruppen sozialpsychologisch u. U. noch viel abschreckender wirkt als die Gruppenbildung im Physischen. Diejenigen, die der Gruppenarbeit sowieso eher (sozial‑)ängstlich-skeptisch begegnen, fühlen sich im Falle virtueller Breakout Rooms womöglich in sehr kaltes Wasser geworfen. Dennoch: Breakout Rooms ermöglichen die Übertragung vieler klassischer Methoden ins Virtuelle – sehr schön beschrieben beispielsweise für viele der Liberating Structures6.
Neues mit Neuem machen
Vieles, was wir aus der „normalen“ Workshop-Moderation kennen, lässt sich offenkundig auch ins Virtuelle übersetzen – auch ohne spezielle Werkzeuge über eine Videokonferenzlösung hinaus. Dabei sollte es aber m. E. nicht bleiben!
Was im Moment angesichts der Notwendigkeit, Dinge schnell ins Virtuelle zu übertragen, übersehen wird: Das Virtuelle bietet auch neue Möglichkeiten; es ist manchmal gar nicht die beste Idee, Methoden mühsam mehr oder minder 1:1 zu übertragen, sondern es wäre vielleicht häufig viel besser, Neues mit Neuem zu machen. Das tun m. E. selbst viele auf Online-Moderation spezialisierte Werkzeuge nicht. Jetzt, nachdem wir in der Welt virtueller Meetings weitgehend angekommen sein dürften, ist es an der Zeit für mehr Kreativität, dafür, nicht mehr das Althergebrachte mühsam herüberzuretten, sondern die neuen Möglichkeiten zu begrüßen und für Neues zu nutzen!
Footnotes:
- ↑ Bspw. Miro oder Mural.
- ↑ I. d. R. mit 3/8″ Innengewinde (Mikrofonhalterung) auf 1/4″ Außengewinde (für Fotostative üblich).
- ↑ Vgl. bspw. <https://www.sk-prinzip.eu/> (22.11.2020).
- ↑ Und wird gerade dieses Szenarios wegen meist auch nicht zentral-administrativ deaktiviert – denn was täten wir bloß ohne PowerPoint‽
- ↑ Wobei ich tendenziell kein Freund des Mindmappings bin, vgl. hier.
- ↑ Vgl. <http://www.liberatingstructures.com> (22.11.2020) oder speziell zur Remote-Umsetzung <https://productcoalition.com/virtual-liberating-structures-c0bafc27c731> (22.11.2020).