Nach etlichen Monaten „virtueller“ Arbeit im Homeoffice wenig verwunderlich: Ich schreibe im Moment viel über Videokonferenzen (vgl. hier und hier). Interessant finde ich, wie wenig in meiner Wahrnehmung Tiefschürfendes ich darüber lese und höre: Vieles, was darüber geschrieben wird, beschränkt sich auf die Technik oder auf das „Wie komme ich online am besten ‚rüber?“ Selbst Vorträge über das Führen virtueller Teams – und auch davon habe in den letzten Monaten etliche gehört – beschränken sich meist auf althergebrachte Führungs-Ratschläge – und natürlich darauf, sich darüber zu elaborieren, wie schwierig das virtuell jetzt alles ist. Es ist wirklich eine Crux: Offenbar stapfen wir nicht nur konkret-technisch, sondern auch abstrakt-methodisch häufig immer noch schlecht orientiert durch das vermeintliche „Neuland“ – und genau das ist ja auch gesellschaftlich akzeptiert, m. E. vor allem in jenen Teilen der Gesellschaft, die ihrer geisteswissenschaftlichen Ausbildung wegen genau jetzt eigentlich aufgerufen wären, einen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Kommunikationskultur zu leisten. An einem zukunftsgewandten, konstruktiv-kritischen Diskurs über die „Digitalisierung“ fehlt es mir persönlich mehr als an der eigentlichen „Digitalisierung“ – und das will wirklich etwas heißen!
Doch genug der Vorrede: Was ich bisher im Konferenzraum in direktem Kontakt mit den Menschen unter intensivem Einsatz von Visualisierungen getan habe, hat sich bis auf weiteres ins Virtuelle verlagert – und das ist m. E. tatsächlich gar nicht so einfach und oftmals sehr, sehr viel anstrengender. Was aber macht es so anstrengend? Nach meiner persönlichen Erfahrung – aber auch nach vielen Gesprächen– würde ich zu der Behauptung neigen, dass vor allem zwei Dinge fehlen, die im „physischen“ Vieles einfacher machen: Blickkontakt und (eigene und fremde) Körpersprache.
Blickkontakt
Zur (Sozial‑)Psychologie und Anthropologie des Blickkontaktes existieren umfangreiche Veröffentlichungen; die Relevanz des Blickkontaktes zwischen zwei Menschen ist fast unabhängig von der Situation extrem hoch. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die non-verbale Kommunikation in Meeting-Situationen beschränken – genau genommen auf die auf der (meist nur vermeintlichen) Sachebene.
In einer Videokonferenz ist „echter“ bilateraler Blickkontakt zwischen zwei Menschen tendenziell nicht möglich: Entweder ich schaue in die Kamera und wirke damit für den anderen, als schaute ich ihn an – oder ich schaue auf dem Videobild in die Augen des anderen. Ich kann ich zwar Blickkontakt zu allen aufnehmen, indem ich direkt in die Kamera (und nicht auf den Bildschirm) schaue, ich kann aber keine „vielsagenden Blicke“ mit einzelnen, konkreten Teilnehmern austauschen – es ist einfach niemandem klar, ob er oder sie gerade Adressat des jeweiligen Blickes im Videobild ist. Blickkontakt mit allen hilft sicherlich, die Verbindung zum Publikum zu verbessern, wenn man einen Vortrag hält1, bilateraler Blickkontakt fehlt in einer Meeting- oder gar Moderationssituation aber sehr merklich: In den meisten Gruppensituationen werden unglaublich viele Dinge zwischen einzelnen Teilnehmern geklärt, indem Blicke ausgetauscht werden – sei es, um sich der Unterstützung eines anderen zu versichern, um unhörbar zu kommentieren oder z. B., um Unterstützung zu bitten. Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass diese unhörbare bilaterale Parallel-Kommunikation eigentlich unerwünscht ist, nicht dem Workshop-Setting entspricht, Asymmetrien in der Gruppenkommunikation verursacht. All das mag richtig sein, aber: Sie fand bisher statt, massiv. Im Virtuellen fehlt sie – zumindest bei mehr als zwei Teilnehmern. Und dieser Mangel ist eklatant, haben doch viele Themen dieser non-verbalen Kommunikation mit Rückversicherung zu tun, mit Sicherheit. Anders formuliert: Im Physischen kann ich meist „sehen“, was mein Vorgesetzter/Teamkollege/… über meine Äußerung, den Verlauf des Meetings o. Ä. denkt – im Virtuellen erfahre ich das womöglich erst zu spät. Dass das als anstrengend(er) wahrgenommen wird, verwundert wenig.
Nun könnte man versuchen, das Problem technisch zu lösen, einen eigenen bilateralen, parallelen Kommunikationskanal aufbauen – z. B. einen privaten Chat. Das wäre allerdings ein deutliches Mehr an Kommunikation als ein bloßer Blickkontakt, würde die Kommunikationssituation noch einmal deutlich ändern – und das nicht unbedingt zum Guten; die Bedeutung der Gruppe als Ganzes würde dadurch sicherlich in einer für viele Workshop-Szenarien ungünstigen Weise reduziert und in hierarchisch geprägten Gruppen entstünden womöglich störende Asymmetrien. Im Falle einer „Entdeckung“ des privaten Kanals durch andere Teilnehmer droht möglicherweise gar ein Vertrauensverlust. Ich würde – außer in spezifischen, wohl durchdachten Ausnahmefällen – nicht dazu raten.
Sinnvoller erscheint mir, eine Kommunikationskultur zu etablieren, in der solche „Nebenkanäle“ nicht nötig sind – einander mit so viel Vertrauen, Offenheit und Wertschätzung zu begegnen, dass ausschließlich „mit offenen Karten gespielt“ wird. Nun dürfte dies ja schon immer erstrebenswert gewesen sein – in der eingeschränkten Kommunikationssituation einer Videokonferenz aber wird noch einmal besonders deutlich, falls es daran fehlt! Die Beschränkungen einer Videokonferenz sind hier also eine Chance für sozial-kommunikative Verbesserungen: Spüre ich das Bedürfnis nach einem zusätzlichen privaten, bilateralen Kommunikationskanal, gilt es innezuhalten und zu reflektieren: Woher kommt dieses Bedürfnis – und was kann ich an der Gruppensituation oder der Kommunikationskultur ändern, um diesen „Nebenkanal“ überflüssig zu machen?
Körpersprache
Körpersignale zu beachten – bei sich selbst, aber auch bei anderen – ist nicht ohne Grund eine der Hilfsregeln der Themenzentrierten Interaktion (TZI): Für sich selbst merkt man so im Meeting meist recht zuverlässig, wie es einem mit dem Thema, dem Gesprächsverlauf oder den Beschlüssen geht – und anderen kann man das auch oft (bewusst oder unbewusst) ansehen. Zudem dient die Körpersprache häufig auch als non-verbale „Wortmeldung“, man sieht den Teilnehmern meist recht gut an, dass sie etwas sagen möchten, aber nicht zu Wort kommen – oder gerade im Fall eher introvertierter Teilnehmer womöglich darauf warten, endlich gefragt zu werden. Nur sehr wenig von all dem sieht man im oft unscharfen oder sehr kleinen Videobild, der begrenzte Bildausschnitt verbirgt meist sogar einfache Gesten wie ablehnend verschränkte Arme.
- Proaktive Worterteilung: Bemerkt man trotz der begrenzten Wahrnehmung durch das Videobild bei einzelnen Teilnehmern ein „Alarmzeichen“, gilt es, dies proaktiv (aber nicht plakativ) anzusprechen – lieber zu früh als zu spät. Ähnliches gilt, falls einzelne Teilnehmer sich gar nicht äußern – sei es, weil sie sich in der spezifischen Situation nicht trauen oder einfach nur, weil sie nicht zu Wort kommen (lies: Alle anderen vehementer das Wort an sich reißen). Für diesen Aspekt gilt natürlich, was für alle Themen dieser Aufzählung gilt: Das Thema ist nicht neu, existiert auch in physischen Meetings – erscheint mir im Kontext des Virtuellen aber ungleich schwieriger und vor allem viel wichtiger.
- Alle zu Wort kommen lassen: In vielen Situationen sollte sich tatsächlich möglichst jeder zum Thema äußern. Diese eigentlich einfache Moderations-Aufgabe wird im Virtuellen allerdings zu einer Herausforderung: Die Teilnehmer der Videokonferenz sehen die jeweils anderen meist in einer anderen Reihenfolge und viele Softwareprodukte passen diese Reihenfolge auch noch dynamisch an. „Einfach reihum“ gibt es also gar nicht. Sofern die Gruppe nicht sehr klein oder aber perfekt selbstorganisiert ist, empfiehlt es sich, vorab eine Reihenfolge festzulegen und diese auch für alle sichtbar z. B. in den Chat zu posten – die meisten Menschen möchten vorher wissen, wann sie „dran“ sind, die Reihenfolge sollte also transparent sein.
- Konsent oder Konsens3 abfragen: Mindestens sollte man alle zu Wort kommen lassen, wenn es um konkrete Ergebnisse geht – herrscht wirklich Konsent oder gar Konsens? Auch das würde man in einem nicht-virtuellen Meeting oftmals an der Körpersprache sehen und diesen Punkt ggf. überspringen – in einem virtuellen Meeting sollte man sich die Zeit nehmen, diesen Punkt sicherzustellen.
- Aktiv nach dem Befinden fragen: Was eigentlich immer eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist in oftmals ja sehr straffen Online-Meetings seltener geworden. Dabei ist gerade im Homeoffice die konkrete Situation der einzelnen Teilnehmer meist viel diverser als in einer Gruppe im Meeting-Raum des Bürokomplexes. Nach dem Befinden zu fragen ist also nicht nur eine Frage der Wertschätzung und der guten Erziehung, sondern liefert wichtige Informationen über die Ausgangslage der Beteiligten. Idealerweise fragt man also am Anfang des Meetings – und in der „sozialen Rüstzeit“ der Gruppe wirkt das Thema zudem natürlicher.
- Anschließend Feedback einholen: Jeder Moderator lernt, jede Gruppe lernt – kontinuierlich und vermutlich am besten durch Feedback. Gerade, falls man den Eindruck gewonnen hat, dass Wichtiges unausgesprochen geblieben oder Verstimmungen zurückgeblieben sind, empfiehlt es sich, das Feedback dediziert in einem Zweiergespräch einzuholen – immer auch unter den Fragestellungen „Was habe ich übersehen?“ und „Was hätte ich stattdessen tun können?“, womöglich aber auch, um selbst noch den Introvertiertesten zumindest nachträglich Gehör zu verschaffen.
Für die Körpersprache gilt Ähnliches wie für den Blickkontakt: In einer Atmosphäre der Offenheit, in der die Dinge an- und ausgesprochen werden, ist man weniger darauf angewiesen. Eine offenere Kommunikationskultur und mehr des aufeinander Achtens macht vieles für alle einfacher – nicht nur in einer Videokonferenz und nicht nur während einer Pandemie.
Footnotes:
- ↑ Vgl. bspw. <https://exzellent-praesentieren.de/ep076-kamera-an-oder-aus> (02.12.2020).
- ↑ Ebenda.
- ↑ Vgl. bspw. <https://t2informatik.de/blog/prozesse-methoden/konsens-konsent-oder-was/> (02.12.2020).