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„Visurrhoe“ – oder: „vizTHINK vs. VIZthink“

Tim Themann

Als ich Ende 2012 „Die Computermaler“ ver­öf­fent­lich­te, war die Idee des visu­el­len Den­kens („VizT­hink“) zumin­dest in mei­nem unmit­tel­ba­ren Umfeld noch eini­ger­ma­ßen exo­tisch, der Begriff „Sketch­no­tes“ war bei­spiels­wei­se gera­de erst gebo­ren (Goog­le Trends). Mike Rho­des (<http://​roh​de​sign​.com>) Buch „The Sketch­no­te Hand­book: The Illus­tra­ted Gui­de to Visu­al Note Taking“ erschien im Dezem­ber 2012 auf Eng­lisch. Schon 1½ Jah­re spä­ter fühl­te ich mich gezwun­gen, über „zu viel des Guten“ zu schrei­ben. Im Kata­log der Deut­schen Natio­nal­bi­blio­thek fin­den sich inzwi­schen elf Bücher nur zum The­ma „Sketch­no­tes“​1, alle erschie­nen in den letz­ten drei Jah­ren und sind bei genaue­rer Betrach­tung natur­ge­mäß inhalt­lich zumin­dest teil­wei­se red­un­dant. Aller­or­ten fin­den Meet­ups statt, kaum ein Bar­camp kommt ohne einen Vor­trag zum The­ma aus. Kurz: Es wird gezeich­net, was das Zeug hält – und vor allem auch auf der Meta-Ebe­ne extrem viel dar­über gespro­chen, vor­ge­tra­gen und geschrie­ben. Inzwi­schen kann man m. E. (bei aller Lie­be zum Visu­el­len) guten Gewis­sens sogar von einer Art „Visur­r­hoe“2 sprechen.

Das Visu­el­le ist ohne Zwei­fel wirk­sam – und auch, wenn Allan Pai­vi­os „dual-coding theo­ry“ vor dem Hin­ter­grund der lern­psy­cho­lo­gi­schen For­schung der letz­ten Jah­re viel­leicht ein wenig ver­ein­fa­chend erscheint: Text und Bild sind tat­säch­lich ein tol­les Paar (vgl. hier). Den­noch gibt es selbst beim Visu­el­len manch­mal „zu viel des Guten“ und das Visu­el­le kann dann womög­lich sogar schaden.

vizTHINK vs. VIZthink

Visu­el­les Den­ken soll­te vor allem eines sein: Den­ken – eine Tech­nik der geis­ti­gen Arbeit. Über­la­gert das Visu­el­le den Inhalt, stört es mehr als dass es hilft. Das kann auf bei­den Sei­ten pas­sie­ren, auf der „sen­den­den“ Sei­te des Pro­du­zen­ten und/​oder auf der „emp­fan­gen­den“ Sei­te des Rezi­pi­en­ten:

Ob aus vizTHINK VIZthink gewor­den ist, lässt sich mei­ner Erfah­rung nach am ein­fachs­ten am Dis­kurs erken­nen: Ver­harrt die Dis­kus­si­on auf der Meta­ebe­ne der Visua­li­sie­rung – wird vor allem über Mate­ri­al und Metho­de gespro­chen –, ist der Inhalt in den Hin­ter­grund getre­ten, kommt das „Think“ in „VizT­hink“ zu kurz. Allein auf der Meta­ebe­ne ist noch kein Dis­kurs vor­an­ge­trie­ben worden.

Mein laten­ter Zynis­mus sei mir bit­te ver­zie­hen: Tritt der Inhalt bereits auf der Pro­duk­ti­ons-Sei­te weit­ge­hend in den Hin­ter­grund, scheint mir ver­meint­li­ches „VizT­hink“ manch­mal kaum noch vom hob­by­mä­ßi­gen Scrap­boo­king oder Card­ma­king unter­scheid­bar zu sein. Nun ist gegen die­ses Hob­by natür­lich kei­nes­falls etwas ein­zu­wen­den – es ist aber nun ein­mal kei­ne Tech­nik der geis­ti­gen Arbeit. Das, was an Visua­li­sie­run­gen auf Twit­ter und Insta­gram ver­brei­tet wird, ist sicher­lich oft erhel­lend – was ich als „Social Sketch­no­tes“ (vgl. hier) bezeich­ne, hat m. E. durch­aus sei­ne Berechtigung​5 Eben­so häu­fig aber wirkt das digi­ta­le „Vor­zei­gen“ der Arbeits­er­geb­nis­se auf mich ein wenig wie bei einem klei­nen Kind, dass die Qua­li­tät sei­ne Kunst­wer­ke gleich im Dut­zend durch Vater oder Mut­ter bestä­ti­gen lässt – „Schau‘ mal, was ich gemalt habe!“

Gar nicht so „dual“

„Dual-coding“ setzt vor­aus, dass es zwei „Kanä­le“ der inhalt­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on gibt – meist den (gespro­chen oder geschrie­ben) sprach­li­chen und den bild­haft-visu­el­len, also bei­spiels­wei­se den Vor­trag und die Prä­sen­ta­ti­on oder z. B. die Zeich­nun­gen und den Text einer Sketch­no­te. Gera­de im Fal­le von Sketch­no­tes kann ich mich aber häu­fig des Ein­drucks nicht erweh­ren, dass sie gar nicht so „dual“ sind: Oft­mals wird der Inhalt fast aus­schließ­lich geschrie­ben-sprach­lich wie­der­ge­ge­ben, der bild­haf­te Teil der Sketch­no­te ist häu­fig mehr deko­ra­tiv als illus­tra­tiv (vgl. hier), maxi­mal den meist stich­wort­ar­ti­gen Text struk­tu­rie­rend. „Illus­tra­ti­on“ kommt vom latei­ni­schen „illus­tra­re“ – „erleuch­ten“. Erleuch­tet mich die Zeich­nung nicht über den eigent­li­chen Text hin­aus, min­des­tens aber par­al­lel zum tex­tu­el­len Inhalt, erscheint sie mir über­flüs­sig, wenn nicht sogar stö­rend (s. u.). Was bleibt, sind oft nur Stich­wör­ter – und zu Stich­wör­tern ist m. E. zu sagen, dass die Ermah­nun­gen der Leh­rer in mei­ner Schul­zeit, doch bit­te in gan­zen Sät­zen zu schrei­ben, einen Sinn hatte.

„3.1 In the pro­po­si­ti­on the thought is expres­sed per­cep­ti­bly through the sen­ses.“ – (Lud­wig Witt­gen­stein)​6

Selbst ein ver­gleichs­wei­se mini­ma­ler Satz („Der Him­mel ist blau.“) setzt meist ein Sub­jekt über ein Prä­di­kat in Bezie­hung zu einem Objekt – gera­de­zu die ele­men­ta­re dekla­ra­ti­ve Aus­sa­ge. Einen Inhalt (z. B. einen Vor­trag) dem ver­meint­li­chen Dik­tat des Visu­el­len fol­gend auf eini­ge weni­ge (mehr oder min­der deko­rier­te) Stich­wör­ter zu redu­zie­ren, lässt sol­che dekla­ra­ti­ven Aus­sa­gen meist mis­sen – es sei denn, das Dekla­ra­ti­ve, das Ver­bin­den­de ist visu­ell qua­si zwi­schen den (tex­tu­el­len) Stich­wör­tern ange­legt. In jedem Fall aber ist die Reduk­ti­on auf Stich­wör­ter radi­kal und ver­langt (meist tie­fes) Ver­ständ­nis des Inhalts. Nun ist es ja einer­seits gera­de u. a. die­ser Reduk­ti­ons­pro­zess, der bei­spiels­wei­se Sketch­no­tes so lern­för­der­lich erschei­nen lässt. Aller­dings gilt jedoch sicher­lich auch: Sowohl Exper­ten als auch Ler­nen­de kön­nen vom visu­el­len Den­ken pro­fi­tie­ren – aber das blo­ße Visua­li­sie­ren macht nicht zum Exper­ten. Nur, weil ich etwas „schön“ visua­li­siert habe, ist noch lan­ge nicht sicher­ge­stellt, dass ich es rich­tig, sinn­voll und ange­mes­sen voll­stän­dig visua­li­siert habe. Genau genom­men ist nicht ein­mal sicher, dass ich es ver­stan­den habe; mei­ne Dar­stel­lung kann durch­aus voll­kom­me­ner Unsinn sein, ohne dass ich es mer­ke – und das womög­lich mas­siv ver­deckt von einer den Inhalt über­la­gern­den Deko­ra­ti­on. Gera­de posi­ti­ves Feed­back für die Visua­li­sie­rung kann hier den Blick ver­stel­len – bezieht sich die Rück­mel­dung doch häu­fig (fast rein auf der Meta-Ebe­ne) auf das Visu­el­le sowie die (eben­falls kon­text­freie) Ästhe­tik und weni­ger auf den eigent­li­chen Inhalt bzw. des­sen visu­ell-tex­tu­el­le Zusam­men­fas­sung. Spä­tes­tens, wenn inhalt­lich kom­plett unsin­ni­ge oder zumin­dest unvoll­stän­di­ge visu­el­le Mit­schrif­ten ob ihrer Gestal­tung gelobt wer­den, ist klar: Das Visu­el­le ist zum Selbst­zweck gewor­den, aus visTHINK ist VIZthink gewor­den.

Cognitive Load

Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung ver­ur­sacht Auf­wand, ver­ur­sacht „cogni­ti­ve load“ (John Swel­ler). Eben­so, wie die Kanä­le des „dual-coding“ (s. o.) ver­mut­lich das Ver­ste­hen ver­ein­fa­chen kön­nen, kön­nen sie bei­spiels­wei­se auch zu einem „split atten­ti­on effect“ füh­ren; die Auf­tei­lung der Auf­merk­sam­keit auf die Kanä­le hat dann womög­lich nega­ti­ven Ein­fluss auf das Ver­ständ­nis und das Ler­nen. Gera­de in Fäl­len, in denen die visu­el­le Ergän­zung tex­tu­el­ler Inhal­te eher erzwun­gen wirkt, dürf­te genau das häu­fig der Fall sein. Abhän­gig von der kon­kre­ten Gestal­tung und ins­be­son­de­re der Ver­zah­nung der bei­den Kanä­le mit­ein­an­der kann die zusätz­li­che Last, die durch das Visu­el­le ent­steht, die Ver­ar­bei­tung also womög­lich auch erschwe­ren („extra­neous cogni­ti­ve load“) – gera­de, aber nicht nur, im Fal­le von zur inhalt­li­chen visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht wirk­lich etwas bei­tra­gen­den Dekoration.

Es ist also kei­nes­falls sinn­voll, anzu­neh­men, dass bei­spiels­wei­se eine visu­el­le Ergän­zung (gern auch: „Auf­lo­cke­rung“) einer Text­wüs­te auf jeden Fall hilf­reich ist – und es dürf­te also auch unab­hän­gig von der oben erwähn­ten Über­la­ge­rung des Inhalts zu viel des Guten geben: Recht­fer­tig der zusätz­li­che kogni­ti­ve Ver­ar­bei­tungs­auf­wand des Bild­haf­ten die posi­ti­ven Effek­te auf den Kogni­ti­ons­pro­zess nicht, habe ich „über-visua­li­siert“. (Kogni­ti­ve Verarbeitungs‑)​Last auf der einen Sei­te und „erleuch­ten­de“ Wir­kung des Visu­el­len auf der ande­ren Sei­te müs­sen sich die Waa­ge halten.

Visual Literacy

Die offen­kun­dig ver­brei­te­te Annah­me, jeder ver­ste­he gleich gut wie ande­re Men­schen und ganz von allein jed­we­de bild­haf­te Dar­stel­lung, ist m. E. lei­der falsch. Die Fra­ge, wie ein­fach das Ver­ständ­nis, wie hoch der Ver­ar­bei­tungs­auf­wand ist, hängt unter ande­rem auch von der „visu­al liter­acy“ des jewei­li­gen Rezi­pi­en­ten ab. Anders for­mu­liert: Ist das Bild­haf­te für den Betrach­ter gleich­sam eine Fremd­spra­che, ist ihm z. B. das jewei­li­ge visu­el­le Voka­bu­lar in sei­ner Meta­pho­rik schlecht zugäng­lich, steigt der Auf­wand für das Ver­ständ­nis enorm.

Die Dosis macht das Gift – und ob ich das Visu­el­le gera­de über­do­sie­re, hängt nicht zuletzt vom Emp­fän­ger ab, die maxi­mal hilf­rei­che Dosis ist indi­vi­du­ell. Das heißt übri­gens auch: In einem Umfeld, in dem das Bild­haf­te bis­her wenig Ein­zug gehal­ten hat, muss ich vor­sich­ti­ger dosie­ren und den Men­schen Zeit geben, die „Fremd­spra­che“ zu ler­nen. Die Gefahr ist, bei aller Begeis­te­rung für das Visua­li­sie­ren den Blick dafür zu ver­lie­ren, was auf Rezi­pi­en­ten-Sei­te eigent­lich noch ver­stan­den und als hilf­reich wahr­ge­nom­men wird, noch wirk­sam ist – die „visu­al liter­acy“ des Emp­fän­gers womög­lich mas­siv zu über­schät­zen. Was als Visur­r­hoe emp­fun­den wird, ent­schei­det sich vor allem beim Emp­fän­ger – und übri­gens dürf­ten weder Zei­chen­stil noch gar Papier­qua­li­tät oder Stif­te dafür eine gro­ße Rol­le spielen.

Es wäre wirk­lich scha­de, wenn ein so wert­vol­les Werk­zeug wie das der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on abnut­zen und stumpf wer­den wür­de. Lasst uns Visur­r­hoe ver­mei­den: Visua­li­sie­ren soll­te man m. E. nicht um des Visua­li­sie­rens wil­len, son­dern um der Kom­mu­ni­ka­ti­on und des Inhalts wil­len – ziel­ge­rich­tet, wohl­do­siert und ohne unnö­ti­ge Dekoration.

Fuß­no­ten:

  1.  Exper­ten­su­che nach tit all „Sketch­no­tes“ sort­By tit/sort.ascending unter <https://​por​tal​.dnb​.de> am 16.05.2019.
  2.  Mor­pho­lo­gisch ana­log zum eta­blier­ten Begriff der „Logor­rhoe“.
  3.  Kof­fer­wort aus „sta­tio­nery“ und „nerd“, Her­kunft unbe­kannt, gele­gent­li­ches (m. E. viel zu sel­te­nes) Auf­tau­chen auf Twitter.
  4.  Oder natür­lich auch bspw. White­board oder (zuneh­mend) Tablet bzw. App.
  5.  Ist aber etwas ande­res als die für einen selbst erstell­ten Sketch­no­tes, vgl. „Für wen sind eigent­lich (mei­ne) Sketchnotes?“.
  6.  Lug­wig Witt­gen­stein, Trac­ta­tus Logi­co-Phi­lo­so­phi­cus, 8th ed. (Lon­don: Rout­ledge & Kegan Paul Ltd., 1960), S. 45.
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